Die Prophetin vom Rhein
Körpers ausließ, bereits seit Längerem fertig sei. »Alles muss möglichst hieb- und stichfest sein. Sonst werden die, die schon darauf warten, dass ich strauchle, wie ein ausgehungertes Wolfsrudel über mich herfallen und mich abwechselnd der Dummheit oder der Lüge bezichtigen.«
Sie ballte die Fäuste.
»Ein törichtes, unwissendes Weib, das sich anmaßt, über solche Themen zu schreiben! Vor allem diejenigen Männer, die dazu aufrufen, das Fleisch zu kasteien, um die unsterbliche Seele zu retten, werden jeden einzelnen Buchstaben umdrehen, bis sie etwas gefunden haben, das sie gegen mich verwenden können. Dabei ist der Mensch doch vom Schöpfer mit Körper und Seele als sein göttliches Abbild erschaffen worden. Deshalb kann es ja auch nicht richtig sein, den Körper zu verachten. Der Kampf gegen das Fleisch führt unweigerlich in die Irre. Nicht einmal die Begehrlichkeit lässt sich dauerhaft damit abtöten.«
Hildegard ging zum Tisch, beugte sich über die frisch geschriebene Seite und begann laut vorzulesen:
Das erste Werden des Menschen entspringt jener Lustempfindung, die die Schlange dem ersten Menschen beim Genuss des Upfels gab, weil damals schon das Blut des Mannes durch Begehrlichteit aufgewühlt war. Daher
ergießt dieses Blut auch einen talten Schaum in das Weib, der dann in der Wärme des mütterlichen Gewebes zur Gerinnung tommt, wobei er jene blutgemischte Gestalt annimmt; so bleibt zunächst dieser Schaum in dieser Wärme und wird erst später von den troctenen Säften der mütterlichen Nahrung unterhalten, wobei er zu einer miniaturhaften Gestalt des Menschen heranwächst, bis schließlich die Schrift des Schöpfers, der den Menschen formte, jene Uusdehnung der menschlichen Formation als Ganzes durchdringt, wie auch ein handwerter sein erhabenes Gefäß herausformt.
Ihr Blick glitt zu Volmar und bat um Zustimmung. »Glaubst du, sie werden es verstehen? Oder sind sie eher bereit, mich zu steinigen, wenn sie so etwas zu lesen bekommen?«
»Du schreibst, was zu diesem Thema gesagt werden muss, und du tust es in Offenheit, Klarheit und Schönheit«, erwiderte er. »Das wird jeder anerkennen müssen, der Verstand besitzt.«
»Aber unser heiliges Gelübde der Keuschheit …«, entschlüpfte Schwester Lucilla, die sofort beschämt den Kopf senkte. Endlose Monate hatte Hildegard verstreichen lassen, bevor die junge Nonne wieder an das Pergament durfte. Hatte Lucilla diese mühsam zurückgewonnene Auszeichnung nun in einem einzigen unbedachten Augenblick erneut verspielt?
»Die Keuschheit, mein Kind«, erwiderte die Magistra erstaunlich gelassen, »ist eine Entscheidung, die wir alle freien Herzens getroffen haben. Sie bedeutet keineswegs eine Abwertung des Körpers, das solltest du niemals dabei vergessen. Unser himmlischer Bräutigam heißt Jesus Christus. Für ihn brennen wir in Liebe und verzichten dafür
aus innerstem Antrieb auf die Liebe zu einem irdischen Mann.«
»Du sprichst wohl von den Reformern, hochwürdige Mutter?«, fragte Hedwig, kaum waren sie endlich nur noch zu zweit. Sie hatte die anderen vorangehen lassen, weil sie spürte, wie schwer die Last war, die der Magistra auf der Seele lag. »Von jenen neuen Orden, die das Fleisch durch Fasten geißeln und nicht einmal davor zurückschrecken, es mit Eisen zu martern, um es zu bezwingen?«
»Nicht nur von ihnen.« Hildegards Stimme klang matt. »Obwohl es mir nur schwerlich in den Kopf will, zu welchen Exzessen diese frommen Brüder bereit sind, deren Äbte sie als geistliche Führer doch eher in ganz andere Richtungen lenken sollten. Ihr Beispiel strahlt aus, weit über die jeweiligen Klostergrenzen hinaus - und kann ganz und gar falsch verstanden werden. Manchmal entstehen daraus die krudesten Lehren. Das bereitet mir Sorge.«
»Diese ›guten Christen‹ meinst du?«, fragte Hedwig. »Jene Ketzer, die sich auch ›gute Menschen‹ nennen und im Besitz des Heils wähnen, in Wirklichkeit aber Kinder des Bösen sind?«
Die Magistra nickte. » Cathari hat der kluge Alanus von Lille sie genannt, und sie sollen bei ihren verbotenen Riten angeblich den Anus einer Katze küssen, da ihnen der Leibhaftige in dieser Form erscheint.« Zwischen ihren dichten Brauen stand eine zornige Falte. »Dass wir unsere Schwester Magota an sie verloren haben, ist möglicherweise nur ein Anfang. Ihre Bewegung wächst unaufhörlich, das haben besorgte Stimmen mir zugetragen, allen voran mein geliebter Bruder Hugo.«
»Aus Bingen hast du sie
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