Die Prophetin vom Rhein
herum.
MAINZ - SPÄTSOMMER 1156
»Die Nabelschnur abbinden! Und jetzt den in Öl getauchten Verband anlegen. Nimm sie vorsichtig hoch und leg sie in die Wiege - ja, genau so!«
Die Kleine war winzig und zerknittert wie ein Ahornblatt, das zu früh vom Baum gefallen war, aber sie lebte. Bis endlich ihr erster Schrei ertönt war, hatte Theresa den Atem angehalten, während ihre Hände wie selbstständige
Lebewesen all die notwendigen Tätigkeiten verrichteten, die Meline in strengem Ton angeordnet hatte.
Jetzt lächelte auch die Wehmutter. »Gut gemacht«, sagte sie und schien selbst zu merken, dass es das erste Lob war, mit dem sie ihre Lehrmagd bedacht hatte.
Vom Bett her drang Stöhnen, denn erst jetzt stieß die Gebärende die Nachgeburt aus, die Meline danach am Fenster einer nicht minder gründlichen Untersuchung unterzog, wie Eva es immer getan hatte. Sie verstand ihr Handwerk, das hatte Theresa inzwischen begriffen, auch wenn sie es anders und wesentlich rauer betrieb, als die Wehmutter in Bingen es getan hatte.
»Ist das Wasser im kleinen Trog auch nicht zu heiß?«, fragte Meline barsch, als bereue sie das Lob von vorhin schon wieder.
Theresa schüttelte den Kopf. »Ganz richtig so. Aber die Kleine!«, rief sie nach einem Blick in die Wiege erschrocken. »Sieh doch nur - sie ist ja auf einmal ganz blau im Gesicht!«
Mit zwei Schritten war die Wehmutter bei dem Neugeborenen, massierte sanft, aber entschieden das kleine Herz und hauchte dem Kind ihren eigenen Atem in den Mund. Eine ganze Weile ging das so, bis das Neugeborene wieder zu schreien begann.
»Du musst sie taufen!«, verlangte Theresa. »Am besten sofort! Soll ich dir das Fläschchen mit dem Weihwasser geben?«
»Ihr eigener Atem ist jetzt stark genug.« Schwerfällig richtete Meline sich auf. »Das Baden verschieben wir besser auf morgen. Zum Sauberwerden reicht das allemal. Und mit dem Taufen hat es erst recht noch Zeit.«
»Was aber, wenn die Kleine stirbt, bevor sie getauft ist? Dann müsste sie ja geradewegs in die Hölle!«
Meline schielte zum Bett, wo die erschöpfte Mutter mit geschlossenen Augen lag, und trat dann ihrer Lehrmagd energisch auf den Fuß.
»Kannst nicht noch lauter plärren?«, zischte sie. »Soll der armen Agathe vielleicht vor lauter Schreck auf der Stelle die Milch versiegen?«
Beschämt starrte Theresa zu Boden. Die alte Angst freilich wollte sie dennoch nicht verlassen. Meline von Adas grausamem Schicksal erzählen wollte sie aber auch nicht. Da kniff sie lieber die Lippen zusammen und sagte vorerst kein Wort mehr.
Schließlich traten die beiden gemeinsam den Heimweg an.
»Hätten wir nicht länger bei ihnen bleiben sollen?«, entfuhr es Theresa, kaum waren sie ein Stück weit gegangen. »Mutter und Kind sind mir so schwach und hilfsbedürftig vorgekommen.«
»Alle Kinder müssen lernen, allein zu atmen«, erwiderte Meline überraschend friedlich. »Das mag in deinen Ohren hart klingen, aber so ist es nun einmal. Eine Wehmutter kann dabei nur Hilfestellung leisten. Außerdem hat Agathe eine ältere Schwester, die ich schon dreimal entbunden habe, und die kennt sich bestens aus mit kleinen Würmchen. Ich muss weiter. Man erwartet mich bereits.«
»Jetzt?«, entfuhr es Theresa. »Wo?«
Einer dieser seltsamen Blicke, mit denen Meline sie in letzter Zeit immer wieder streifte. »Versorg du die Muhme«, sagte sie. »Ich komm einstweilen auch ohne dich zurecht.«
Normalerweise hätte Theresa dagegen aufbegehrt, heute jedoch kam ihr diese Antwort gerade recht. Sie flog regelrecht nach Hause, lief in die kleine Küche, goss Wasser und Milch in einen Topf und rührte die Grütze so sämig, wie
die Muhme es am liebsten hatte. Während sie die Alte fütterte, schien die Graue Theresas innere Anspannung zu spüren und angelte munter nach ihren Füßen.
»Das Schätzlein wartet schon auf dich«, sagte die Muhme, als die Schüssel leer war. »Mach dich noch schön für ihn! So etwas mögen die Männer.«
Vor Schreck wäre Theresa beinahe der Holznapf aus der Hand gefallen. Wer hatte sie verpetzt? Ihr Treffpunkt am Hafen war ihnen bislang so sicher erschienen!
»Du redest dummes Zeug«, sagte sie resolut und wischte den eingefallenen Mund der Muhme sauber.
»Kann sein«, kicherte die. »Aber ich weiß, was ich weiß.«
Theresa lief in ihre Kammer. Kaum blieb noch Zeit, sich die Hände zu waschen und etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen. Sie schaute an sich hinunter. Das blaue Kleid war zerknittert und hatte
Weitere Kostenlose Bücher