Die Prophetin von Luxor
Cheftu blieb distanziert; der fürsorgliche, zärtliche Heilkundige, den sie so kurz zu Gesicht bekommen hatte, hatte sich wieder zu dem kühlen, methodischen Arzt zurückverwandelt, der ihren Leib akribisch und emotionslos untersuchte. Dafür war D’vorah ständig an ihrer Seite, liebevoll und bleich, und machte mit ihrem süßen Lä-cheln seine Grobheit wieder wett.
Chloe marschierte auf Thuts Geheiß hin durch den Palast und stellte dabei fest, daß diese Fliegen nicht einfach nur riesige ägyptische Fliegen waren, die sich den Menschen in die Augen setzten, sondern Beißfliegen. Sie war in mehrere Schichten von Leintüchern gehüllt, aus denen nur die Augen, mit dicken Bleiglanzringen ummalt, und die in hochgeschnürten Sandalen steckenden Füße hervorsahen. Die Fliegen bissen durch die Leintücher hindurch, immer und immer wieder, bis Chloe vor Zorn am liebsten laut aufgeschrien hätte. Unter dem Leinen begannen Beulen zu wachsen.
Sie wurde in einen Raum eingelassen, in dem sich lauter ähnlich gekleidete Menschen versammelt hatten.
Einen Moment lang mußte sie grinsen. Sie sahen aus wie eine Ansammlung wandelnder Mumien. Ein paar Gesichter erkannte sie von ihrem Debüt als Tänzerin wieder. Kein Cheftu. Thut wandte sich ihr zu. Er war damals nicht dabeigewesen und wußte nichts von der ganzen Sache, so hatte es den Anschein. Nesbek hatte Thuts Namen nur als Köder benutzt, dem sie nicht widerstehen konnte. Mochte Sobek ihn in den Hintern beißen! Sie hätte wissen müssen, daß ein Mann, der den Drang und die künstlerische Ader hatte, Tonwaren zu bemalen, nichts für Nesbeks lasterhafte Hobbies übrig hätte.
Thut wandte sich an die Versammelten. »Ihr gehört zu den mächtigsten Dienern der Götter in Unterägypten. Ihr gehört zu den Adligen mit den größten Ländereien in Unterägypten. Ich habe euch zusammengerufen, weil eine bösartige Gottheit Ägypten zu zerstören versucht. Was sich hier ereignet hat, so berichten mir meine Kuriere, hat sich im ganzen Land ebenfalls ereignet. Pharaos Hof in Oberägypten ist in Aufruhr, und das Große Haus bringt ganze Tage damit zu, den Menschen in Karnak Linderung zu verschaffen. Ich brauche eure Weisheit. Ägypten braucht eure Weisheit.«
Ein Magus meldete sich zu Wort. »Du mußt diese Israeliten ziehen lassen, damit sie ihrem Gott opfern können. Es gibt keine andere Lösung. Schließlich gehört nur ein Teil der Apiru zu ihnen. Sie haben sich seit jeher abgesondert, und vielleicht werden sie nach ihrer Rückkehr eher gewillt sein, Ägypter zu werden und sich unseren Sitten anzupassen.«
Leises Murmeln signalisierte Zustimmung zu diesem Vorschlag. Thut wanderte vor ihnen auf und ab wie ein wildes Tier im Käfig.
»Wenn sie nicht gehen, wird Ägypten zugrunde gehen!« rief ein Adliger.
Ein wohlhabender Landbesitzer fiel ihm ins Wort. »Aber was machen wir ohne die Apiru oder die Israeliten oder wie diese erbärmliche Bande auch heißen mag? Wir werden wieder wie vor Urzeiten arbeiten müssen, in denen wir nur während der Überschwemmungen und nur mit unseren eigenen Rekkit bauen konnten. Dann wird es wieder Jahrzehnte dauern, bis ein Tempel repariert oder ein Grab erbaut ist.« Seine aufgebrachte Erwiderung wurde mit Applaus bedacht.
Menkh, Verkünder der Wahrheiten in On, sprach; seine hohe Stimme klang ruhig, doch was er sagte, war beunruhigend. »Wir müssen es hier mit einem Gott zu tun haben, der sich über unsere Götter lustig macht. Erst trifft er Hapi, die Göttin des Nils. In der Lebensader Ägyptens fließt plötzlich Blut, das jedes Leben raubt. Die Fische, einer unserer größten Schätze, sterben zu Tausenden. Das allein genügt, um eine Hungersnot auszulösen. Wir feilschen hier mit einem mächtigen Gott.«
Alles blieb still, als er sich wieder setzte. Einige der Anwesenden rutschten bei dem Gedanken an einen zornigen, mächtigen unbekannten Gott nervös auf ihren Sitzen herum.
Khabar, ein Geschäftsmann aus Zarub, tätschelte sich den Bauch, während er sich erhob, und sprach sich dafür aus, alle Unruhestifter hinzurichten und sich keine weiteren Sorgen zu machen.
Mit seinen Worten erntete er vereinzelt Applaus, doch Thut zog die Stirn in Falten. »Ich werde meine Hände nicht durch den Mord an einem Propheten oder Priester beflecken, so unbedeutend er auch sein mag. Ich werde nicht töten, nur weil es mir dienlich erscheint. Woher wissen wir, daß dieser Gott, wenn es ihn gibt und er auch über uns Macht hat, uns nicht mit einer
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