Die Prophetin von Luxor
einem Pferdeschwanz gebunden, doch er war rasiert.
Chloe seufzte. Seit über dreißig Tagen hatten sie einander nicht mehr berührt - aber wer zählte schon mit? Sie hatten Glück gehabt; die Karawane, der sie sich angeschlossen hatten, zog in Richtung Waset und von dort aus weiter südlich nach Kush. Unglücklicherweise gehörten die Nomaden einer eigenartigen religiösen Sekte an, bei der Frauen und Männer vollkommen getrennt lebten, und dasselbe wurde als Gegenleistung für das Mitreisen auch von Chloe und Cheftu erwartet. Das Laufen hatte Cheftus Bein gutgetan; man merkte kaum mehr, daß er hinkte. Endlich waren sie in Waset angekommen, und Cheftu hatte ihnen Reitesel zu einem Rekkit-Feld besorgt. Von
dort aus waren sie gewandert.
Daß sie in der Karawane mit niemandem reden konnte, hatte sie fatal an die Zeit nach ihrer Ankunft im alten Ägypten erinnert. Niemand verstand das Hochägyptisch, das sie sprach. Noch nie hatte Chloe in so kurzer Zeit so viele Werke produziert. Die anderen Frauen verbrachten die meiste Zeit mit ihren Kindern. Chloe hatte ihre mitleidigen Blicke bemerkt, denn vermutlich hielten die anderen sie für eine alternde Jungfer. Das schlimmste war aber daß der Abstand zwischen ihr und Cheftu nicht mehr nur physischer Natur zu sein schien. Sie hätten Fremde sein können. Thief, der anfangs alle Tiere in Angst und Schrecken versetzt hatte, hielt seither mehr Distanz. Und den Esel hatten sie zum Dank zurückgelassen.
Einen Monat lang hatte Cheftu kaum ein Wort mit ihr gewechselt, und ihr war die Fähigkeit abhanden gekommen, in seinen Augen zu lesen. Mangelnde Praxis, dachte sie. Also hatte sie gezeichnet . und jene Erinnerungen zu Papyrus gebracht, die sie am Tag verfolgten und ihre Nächte erfüllten: das Meer, die Soldaten, die Lager, das Feuer, die Wolke und das Passahopfer.
Es war ihr sogar gelungen, eine akkurate Wiedergabe des Spektrums verschiedener Todesarten auf Papyrus zu bannen. Doch diese Zeichnung war auf gespenstische Weise ins Feuer geweht worden und dort in Flammen aufgegangen. Das Erlebnis verunsicherte Chloe so tief, daß sie sich daraufhin auf die Darstellung von Straßen und des Himmels beschränkte. Insgesamt hatte sie fünfzehn Bilder geschaffen ... mehr, als Cammy ihrer Erinnerung nach erwähnt hatte, doch schließlich würden Staub, Ratten und die Zeit einiges für sich reklamieren. Das beste Werk würde überleben; das wußte sie bereits.
Camille - sie kam ihr inzwischen wie ein Traum vor. Chloe konnte sich nicht einmal mehr an eine einzige Schlagzeile, einen einzigen Werbespruch erinnern, sie wußte nicht mehr, wie man von ihrem Haus zum Einkaufszentrum kam oder was genau ein Einkaufszentrum eigentlich war. Stück für Stück war das zwanzigste Jahrhundert in ihrer Erinnerung verblaßt, so sehr, daß sie nach ihrer Heimkehr - wer vermochte das schon zu sagen?
Hatte RaEm mit ihr Platz getauscht? Das schien ihr wahrscheinlich. Cheftu hatte etwas Ähnliches von seiner »Verschmelzung« mit einem anderen Menschen erzählt. Wenn RaEm mit ihr getauscht hatte, was hatte sie dann mit Chloes Leben angestellt?
»Es ist ganz in der Nähe«, knurrte Cheftu frustriert und blickte über das Meer aus silbernem Sand, das sie umgab. »Ich kann die Position nicht genau bestimmen, aber wir sind da, südöstlich von Waset in Richtung Meer.«
Unvermittelt zurück in die Gegenwart gerissen, schaute Chloe sich um. »Hat Hatschepsut erwähnt, welches Zeichen auf ihr Grab hindeuten soll?«
»Nein. Sie hat nur ein einziges Mal von dem Ort gesprochen. Ich hätte nie gedacht, daß ich hierher kommen würde, deshalb habe ich mir keine Wegbeschreibung geben lassen!« Er war angespannt und sarkastisch, doch das war sie auch.
»Du brauchst deine Wut nicht an mir auszulassen. Wir müssen einfach so denken wie Hatschepsut. Hat sie sich gut genug in der Wüste ausgekannt, um anhand der Sterne ihre Position zu bestimmen?«
Cheftu schnaubte. »Nein.«
»Also muß es irgend etwas geben. Einen Xenotaph, einen Obelisken, irgendwas.« Sie begann herumzugehen.
Cheftu kickte Sand über seine Zeichnung und gesellte sich zu ihr. Er berührte sie ganz leicht am Arm. »Ich muß mich für meinen Wutausbruch entschuldigen. Ich habe einfach nur das Gefühl, daß wir alle Mühen völlig umsonst auf uns genommen haben.«
»Wir sind eben erst hier angekommen«, sagte Chloe. »Laß uns etwas schlafen, und morgen sehen wir dann weiter.«
»Gibst du mir einen Kuß darauf?« fragte er und zog ihren Kopf
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