Die Prophetin
Garibaldis Schulter eingeschlafen. Irgendwann im Laufe der Nacht hatte er schützend den Arm um sie gelegt, obwohl es in dem Abteil nichts mehr zu befürchten gab.
Catherine richtete sich auf und betrachtete das näherkommenden Bahnhofsgebäude von Greensville. Sogar auf dem Bahnsteig lag Schnee. Sie war froh, daß Garibaldi und sie daran gedacht hatten, in Washington Stiefel zu kaufen.
Es war ihnen gelungen, noch rechtzeitig aus Mrs. OTooles Gästehaus zu fliehen. Sie hatten die Computernachricht – ›Er hat Sie gefunden!‹ – gelesen und das Haus wenig später durch den rückwärtigen Ausgang verlassen. Ein überdachter Gang führte zum Nebenhaus, das gerade völlig renoviert wurde. Niemand, der Mrs. OTooles Haus beobachtete, konnte ihre Flucht bemerken. Garibaldi ließ sich die Rechnung geben, Catherine packte die blaue Tasche mit den Schriftrollen. Garibaldi nahm den Laptop und seine schwarze Reisetasche.
Im Schutz einer immergrünen Hecke warteten sie auf ein Taxi und sahen, daß ein Wagen vor dem Gästehaus anhielt. Der Fahrer stieg aus und verschwand im Haus – es war der Killer mit dem Narbengesicht.
Aus Vorsicht fuhren sie weder zum Flughafen noch zum Bahnhof, sondern ließen sich von dem Taxifahrer wie zwei neugierige Touristen die Stadt zeigen. Erst gegen Abend wagten sie sich in den Bahnhof und nahmen den Zug nach Vermont. Niemand folgte ihnen, kein Mensch achtete auf sie.
Jetzt hatten sie ihr Ziel erreicht und stapften erleichtert hinaus in die frostige Morgenluft. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten. Alles hier war still und menschenleer. Catherine fragte sich, ob Havers sie auch hier ausfindig machen werde. »Fahren Sie zum Kloster in Greensville in Vermont«, hatte die Frau an der Zentrale des Halekulani Hotels gesagt, nachdem sich Catherine als Mrs. Meritites gemeldet hatte. »Fragen Sie nach Thomas von Monmouth.«
Garibaldi machte sich auf die Suche nach einer Fahrgelegenheit, und Catherine kaufte eine Zeitung. Auf dem Titelblatt stand: ›GEFÄLSCHT ODER ECHT?‹ Darunter befanden sich nebeneinander zwei Photos des Jesus-Fragments: das Original, das seit dem Tag nach Daniels Tod immer wieder in den Zeitungen erschien, und das andere, das am Tag zuvor veröffentlicht worden war und das der ägyptische Archäologe angeblich persönlich aus Dr. Alexanders Zelt entfernt hatte.
In dem Artikel wurde berichtet, daß sich unter den Experten Zweifel an der behaupteten Fälschung regten, da ein Vergleich der beiden Photos ergeben habe, daß es sich wahrscheinlich nicht um zwei Teile desselben Dokuments handelte. Also bestehe durchaus die Möglichkeit, daß Dr. Alexanders Schriftrollen echt seien.
Catherine zweifelte keinen Augenblick daran, daß Havers auch diese Wendung vorausgesehen hatte, die den Schriftrollen ihren Wert zurückgaben und sie wieder für seine Privatsammlung interessant machten.
Der Vorwurf der Fälschung hatte nur dazu dienen sollen, sie aus ihrem Versteck zu locken. Er hatte diese Runde für sich verbuchen können. Noch einmal wird er mich nicht überlisten. »Wir haben Glück«, sagte Garibaldi, als er zurückkam. »Ein Mann, der auch hier ausgestiegen ist, wohnt in der Nähe des Klosters. Er war über Weihnachten in Washington und hat seinen Wagen am Bahnhof abgestellt. Er will uns mitnehmen.« Garibaldi lächelte scheinbar unbeschwert. »Wirklich nette Leute hier in Vermont.«
Doch Catherine sah die Anspannung in seinen Augen. Sie wußte, was er dachte: Sie waren zum dritten Mal um ihr Leben gelaufen. Würden sie auch ein viertes Mal Glück haben?
»Das muß man erleben, um es zu glauben«, sagte Garibaldi, als sie auf ihrem Weg zum Kloster durch den Schnee stapften. »Ich bin solche Winter nicht mehr gewöhnt.«
Catherine sah ihn erstaunt an und warf dann einen Blick zur Straße zurück. Der Mann aus Greensville hatte sie abgesetzt und gesagt, bis zum Kloster sei es nur noch ein kurzer Weg. Die Straße war völlig leer, und niemand war ihnen gefolgt. Wieder einmal hatten sie überlebt, wenn auch nur dank der Hilfe des geheimnisvollen ›Freundes‹.
Catherine hatte keine Ahnung, von wem die Computernachricht gekommen war. Aher sie hatte auf ihre Art diesem Mann oder der Frau auf der langen Fahrt nach Vermont gedankt. Ohne den anonymen Hinweis wären sie und Garibaldi den Killern nicht entkommen.
War es Jean-Luc gewesen? Vor zwei Tagen hätte sie beinahe ›/whois Jean-Luc‹ eingegeben. Jetzt wünschte sie, es getan zu haben.
Das Kloster lag in den Bergen
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