Die Prophetin
inmitten großer Wälder. Es gehörte Benediktinerinnen, die Gäste aufnahmen
– allerdings nur Frauen, wie der Mann aus Greensville gesagt hatte. Es gab einfache Unterkünfte, und die Besucherinnen nahmen die Mahlzeiten entweder allein oder mit den Nonnen ein. Die Nonnen versammelten sich achtmal am Tag zum Gebet. Um zehn Uhr morgens wurde eine lateinische Messe gelesen, an der die Leute aus der Umgebung teilnehmen konnten. »Die Kapelle ist alt«, hatte der Mann ungefragt erklärt, während sie über die verlassene Landstraße fuhren. »Der Altar steht so, daß die Nonnen ein Schiff für sich allein haben. Sie sitzen hinter einem Eisengitter getrennt von der Gemeinde. Und ich kann Ihnen versichern, ihr Gesang ist so klar und rein, als sei er nicht von dieser Welt!«
Catherine hörte jetzt das Singen, das über eine hohe Steinmauer durch die Bäume zu ihnen drang. Ja, wie die Stimmen von Engeln…
Catherine und Garibaldi erreichten kurz darauf das massive Holztor. In Augenhöhe befand sich eine kleine vergitterte Öffnung, die auf der anderen Seite durch eine Klappe verschlossen war. Seitlich der Pforte gab es eine Glocke, doch weder ein Name noch ein Schild verriet, daß es sich um ein Kloster handelte. Catherine richtete den Blick auf die steinernen Türmchen und Giebel, die grau und streng über die Mauer ragten.
Sie fragte sich, wer Thomas von Monmouth war, wie Julius ihn entdeckt hatte und welche Informationen er angeblich besaß. Catherine hatte natürlich darauf verzichten müssen, Julius anzurufen und ihn nach Einzelheiten zu fragen. Ein Telefongespräch hätte ihre Verfolger mit Sicherheit auch hierher in diese Einsamkeit geführt.
Garibaldi blickte auf die Uhr. Es war Mittag. Sie mußten warten, bis die Nonnen die Sext, das vierte kano-nische Stundengebet, beendet hatten. Als der Gesang schließlich verstummte, zog er am Klingelzug. Die altmodische Glocke schwang hin und her und läutete hell und laut.
Nach kurzem Warten erschien ein Gesicht hinter dem Gitter, und eine alte, gebückte Nonne öffnete die Pforte. Sie ging mit schnellen Schritten stumm vor den Besuchern her und führte sie über einen vereisten, gepflasterten Weg und ein paar Steinstufen in einen Empfangsraum. Dort war es so still wie in einer Kirche, und es roch nach Zitronenöl.
Die Nonne verschwand durch eine Tür unter einem gotischen Bogen. Einen Augenblick später kam eine andere herein. Sie stellte sich als Mutter Elisabeth vor, und der Schlüsselbund sowie ein großer hölzerner Rosenkranz, dessen Perlen an ihrer Hüfte leise klackten, verrieten, daß sie die Äbtissin des Klosters war.
»Um diese Jahreszeit haben wir sehr selten Gäste«, sagte sie. »Die Leute verbringen Weihnachten bei ihren Familien. Wir nehmen niemals Männer auf, obwohl…«, sie sah Garibaldi lächelnd an, »Priester selbstverständlich willkommen sind.« Sie war eine ältere Frau, aber in gewisser Weise wirkte sie alterslos, fand Catherine. Ihr Gesicht hatte kaum Falten, die Augen blickten hell und klar die zwei Besucher an. Man sah unter der Haube nichts von den Haaren, und die Hände verschwanden in den langen weiten Ärmeln der schwarzen Ordenstracht. Auch das erschwerte es, ihr Alter zu erraten. Die Stimme schien einer jungen Frau zu gehören. »Was kann ich für Sie tun?«
»Wir suchen jemanden«, erwiderte Garibaldi. »Oder etwas«, fügte Catherine hinzu. »Wir vermuten, es könnte sich um ein Dokument oder um eine Handschrift handeln. Heutzutage heißt wohl niemand mehr Thomas von Monmouth, oder?«
»Bestimmt nicht«, erwiderte die Äbtissin und lächelte. »Sie kommen also, um Thomas zu sehen! Wir sind sehr stolz auf unsere Handschrift. Sie ist in einem hervorragenden Zustand und wunderbar illuminiert. Seit Jahren hat niemand mehr darum gebeten, sie sehen zu dürfen. Es wird mir eine Freude sein, sie Ihnen zu zeigen. Bitte folgen Sie mir.«
Sie gingen durch stille Gänge, wo Statuen von Heiligen mit traurigen Augen unergründlich ins Leere blickten, und erreichten schließlich die große Bibliothek mit einem gemütlichen Feuer im Kamin. Die Äbtissin schloß ein Kabinett auf, nahm eine große Ledermappe heraus, legte sie auf den Tisch und öffnete sie. Die Mappe enthielt ein vergilbtes, aber gut erhaltenes Blatt Pergament. Die Tinte war noch dunkel, und die Farben der Malereien und der Inkunabeln hatten nichts von ihrer Leuchtkraft und Lebendigkeit eingebüßt.
Offenbar handelte es sich um die Seite eines Buches. Ein
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