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Die Prophetin

Die Prophetin

Titel: Die Prophetin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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im gotischen Stil errichtet hatte.
    Sie hörte das Singen aus der Kapelle. Die Töne stiegen in die Winterluft und klangen von weitem so zart und schwerelos, daß man tatsächlich an einen Chor der Engel hätte glauben können. Catherine warf einen Blick durch das Schaufenster in den geschlossenen kleinen Laden, wo im Frühling und Sommer Ahornsi-rup von Bäumen des Klosters und schöne, von den Nonnen angefertigte Stickarbeiten verkauft wurden. Sie sah keine Bücher, nichts Gedrucktes. Die Äbtissin hatte gesagt, daß es im Kloster keine Zeitschriften oder Zeitungen gab. Das Kloster besaß nicht einmal ein Fernsehgerät. Im Büro der Äbtissin stand ein kleines Radio, das aber nur in Notfällen oder für den Wetterbericht eingeschaltet wurde. Ansonsten erlaubten die Schwestern der Welt weder mit Nachrichten noch auf eine andere Weise hinter ihre hohen Mauern vorzu-dringen.
    Die Äbtissin hatte zweifellos noch nie etwas von Catherine Alexander oder den Schriftrollen vom Sinai gehört. Es schien sie nicht einmal zu kümmern, daß in vier Tagen ein neues Jahrtausend anbrechen sollte.
    Der Himmel über dem Wald wurde allmählich dunkel, und die Nacht hüllte die Erde in eine schwarze Decke. Als Catherine zum Hauptgebäude zurückging, hörte sie die Nonnen bei der Andacht in der alten Kapelle und stellte sich vor, daß Garibaldi bei ihnen war. Es muß die Vesper sein, dachte sie und erinnerte sich wehmütig an ihre Jugend.
    Das Abendessen gab es in einem Speisesaal, der für sehr viel mehr Menschen gebaut worden war. Catherine sah zum ersten Mal alle Bewohnerinnen des Klosters beisammen. Es waren erstaunlich wenige und meist ältere Nonnen in der Tracht einer vergangenen Zeit, die diszipliniert die Ordensregeln und Rituale befolgten, die vor vielen Jahrhunderten festgelegt worden waren. Während Catherine die herzhafte Suppe und das einfache Graubrot aß, versuchte sie so unauffällig wie möglich die Nonnen zu beobachten, die ihr scheu zulächelten. Die Mahlzeit verlief in tiefem Schweigen. Mit einer Geste wurde um Salz gebeten, ein leises Klopfen mit den Fingerknöcheln war die Bitte um den Wasserkrug. Was geht in ihren Köpfen wohl vor, fragte sich Catherine. Hatten sie noch Gedanken oder Interesse für die Welt jenseits der Klostermau-ern? Dachten sie manchmal an das Leben, das sie hinter sich gelassen hatten, als sie vor vielen Jahren alles aufgaben, um Gott zu dienen? Bedauerte vielleicht eine von ihnen diese Entscheidung? Catherine erinnerte sich, gelesen zu haben, daß das Durchschnittsalter von Ordensschwestern bei fünfundsechzig Jahren lag.
    Sie nahm nicht an der Komplet, dem Tagesschlußgebet, teil, sondern zog sich in die Bibliothek zurück, um noch einmal die Handschrift des Thomas von Monmouth zu betrachten. Danach wollte sie anfangen, die sechste Schriftrolle zu lesen, um herauszufinden, was Sabina in Stonehenge widerfahren war. Doch der Papyrus befand sich in einem schlechten Zustand. Sie würde sich viel Zeit dazu nehmen, das sechste
    ›Buch‹ zu öffnen und zum genauen Studium unter einer Lampe auszubreiten. Vor allem wollte sie nicht, daß jemand sie dabei überraschte. Sie und Garibaldi hatten der Äbtissin nichts über den wahren Grund ihres Besuchs gesagt, und bis jetzt hatte sich auch niemand danach erkundigt.
    Catherine saß am Kamin und glaubte, noch immer den Gesang der Nonnen zu hören. Dabei stellte sie sich die alten Frauen vor, die sie im Speisesaal gesehen hatte, und versuchte, die Gesichter den reinen, engelhaf-ten Stimmen zuzuordnen. Die Nonnen verbrachten ihr ganzes Leben in klösterlicher Stille. Sie schienen von der Welt vergessen zu sein. Doch ihre Stimmen – es war, als seien Herz und Geist in dem Gesang zu höchster Vollkommenheit vereint.
    Catherine konnte sich vorstellen, daß die Nonnen ihr Leben genau dieser Art Vollkommenheit weihten. Die kleine Gruppe hielt kompromißlos an den Prinzipien des Glaubens fest, die anderswo dem Fortschritt und der Verweltlichung zum Opfer gefallen waren. Kein Wunder, daß es keine Novizinnen gab, die nach dem Tod dieser gläubigen Schwestern die Tradition weiterführen würden. Trotzdem lebten die Nonnen für ihren Glauben – mehr brauchten sie nicht. Ihre Stimmen kündeten von der Reinheit des Glaubens, die, wie die Mystiker der unterschiedlichsten Religionen der Welt bewiesen hatten, zu der Ekstase führen konnte, durch die das irdische Dasein überwunden werden kann, um sich mit dem Göttlichen zu vereinen. Ein Spitzen-vorhang bewegte

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