Die Prophetin
maschinengeschriebener Hinweis auf einem bei-gelegten Blatt Papier verriet, daß es sich um ein Werk des Thomas von Monmouth aus dem zwölften Jahrhundert handelte. »Bitte«, sagte sie, »sehen Sie es sich an.«
Catherine übersetzte den Text und las ihn dabei laut vor: »›… an den Kaienden des Juni, und als die Stunde gekommen war, überfielen die Römer die Stanhengues oder den Ring der Kraft, in der Hoffnung, König Uther gefangenzunehmen…‹« Sie bewegte den Zeigefinger unter dem lateinischen Text entlang: »›… dux bellorum…‹«
»Dux bellorum… Anführer der Krieger«, murmelte Garibaldi. »Uther?« Er sah die Äbtissin fragend an.
»König Arthur?«
»So interpretieren wir es auch«, sagte sie und nickte. »Sie wissen ja, wie das mit Legenden ist. Im Laufe der vielen Generationen werden manche Tatsachen verdreht und mit Erfundenem vermischt. Aber wäre es nicht wunderbar, wenn sich das auf König Arthur beziehen würde?« Sie ging zur Tür. »Ich lasse Sie beide allein, damit Sie die Handschrift in Ruhe lesen können. Und, Vater«, sie wies freundlich auf den Raum,
»benutzen Sie alles, was Sie brauchen. Wir sind stolz auf unsere Bibliothek.« Nachdem die Äbtissin gegangen war, fuhr Catherine mit der Übersetzung fort: »›… den Anführer der Britonen, und sie stürzten sich auf die Druiden, die sich dort versammelt hatten. Es gab ein schreckliches Gemetzel an jenem Tag im Ring der Steine. Die Römer schnitten allen die Kehle durch, es waren mehr als fünfhundert, darunter auch Kinder und Frauen. Die Frau des römischen Kommandanten Cornelius Severus befand sich unter ihnen, und er stellte zu seinem großen Leidwesen fest, daß er durch den Angriff seine eigene Frau verloren hatte, die ohne sein Wissen an dem Ritual der Druiden teilnahm. Sie hieß Sabina Fabiana und hinterließ sechs Bücher über Zauberei und Alchimie, die später mit der Priesterin Valeria am heiligen Ort begraben wurden‹«
»Wie bitte? Das kann nicht sein«, sagte Garibaldi. »Sabina war nicht mit Cornelius Severus verheiratet.«
»Nein«, sagte Catherine, »aber die Geschichte ist im Laufe der Jahrhunderte mit Sicherheit verändert worden. Thomas schreibt beinahe tausend Jahre nach dem Ereignis. Wir wissen, daß Sabina in Stonehenge war, um an einem Druidenritual teilzunehmen. Und…« Sie seufzte, »wir haben leider nur sechs Bücher.«
»Wer ist Valeria?«
»Vielleicht eine Druidenpriesterin.«
»Könnte das Begrabenwerden etwas mit dem Brunnen auf dem Sinai zu tun haben? Handelt es sich bei dem Skelett um Valeria?«
»Vielleicht…«
»Wie geht es weiter?«
Catherine las die letzte Zeile. »›Über das siebte Buch, von dem die Legende berichtet, ist nichts bekannt, denn es wurde nie geschrieben.‹« Sie sah Garibaldi nachdenklich an. »Glauben Sie, es stimmt, daß die siebte Schriftrolle nur eine Legende ist?«
»Der Bericht des Thomas von Monmouth ist, wie wir gerade festgestellt haben, in einem Punkt falsch. Also könnte er auch darin irren. Woher weiß er, daß das siebte Buch nie geschrieben worden ist? Wenn in der Legende davon gesprochen wird, muß es existiert haben.«
»Viele Legenden sind nichts als Märchen, und das, wovon sie berichten, ist reine Erfindung.«
»Catherine, glauben Sie wirklich, Sabina ist in Stonehenge getötet worden?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie nachdenklich. »Ich muß immer noch eine Schriftrolle übersetzen.« Doch Catherine wußte bereits, daß das sechste ›Buch‹ sehr kurz war. Befand sich darin vielleicht eine Beschreibung des Druidenrituals? Hatte Perpetua in einer römischen Garnison in Britannien gelebt und Sabina nach dem Überfall gepflegt? Hatte sie erleben müssen, daß Sabina trotzdem an ihren Wunden gestorben war?
Aber die Sabina, die diese Rollen diktiert hatte, war über achtzig gewesen; die Sabina in Britannien war höchstens dreißig. Garibaldi sah sie an und sagte ruhig: »Wo sollen wir als nächstes suchen? Wohin gehen wir von hier aus?« Das hing ganz davon ab, was in der sechsten Rolle stand. Es gab keine Fahrgelegenheit zum Bahnhof, und da am Himmel dunkle Schneewolken hingen, bot ihnen die Äbtissin an, die Nacht im Kloster zu verbringen.
Garibaldi ging zum Nachmittagsgebet der Nonnen in die Kapelle, Catherine machte auf dem großen Ge-lände einen Spaziergang. Sie ging langsam auf Kieswegen entlang, von denen der Schnee gefegt worden war, und betrachtete sich die gemauerten Gebäude und kleinen Häuser, die man vor zweihundert Jahren
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