Die Prophetin
»Ich bin froh, daß du mir das alles gesagt hast, Julius«, sagte sie mit gepreßter Stimme. »Wenn ich auch nur einen Augenblick unsicher gewesen sein sollte, ob ich weitermache, dann gibt es jetzt keinen Zweifel mehr. Es ist meine Pflicht, nach der siebten Schriftrolle zu suchen! Ich tue es nicht nur für meine Mutter und für Daniel, sondern auch für diese bedauernswerte Frau, die man in den Brunnen gestoßen hat. Ich tue es für Sabina, Perpetua und Amelia und für jeden, der die Botschaft der Schriftrollen hören will. Ja, ich habe Regeln und Gesetze gebrochen. Ich habe es geschafft, alle Welt gegen mich aufzubringen, und wahrscheinlich habe ich auch dich verloren. Aber ich kann nicht aufgeben. Jetzt nicht!«
»Catherine, bitte, tu es nicht.«
»Flieg nach Kalifornien, Julius. Geh zurück in dein sicheres Institut, zu deinen Regeln und deinen morali-schen Grundsätzen und laß mich in Ruhe.« Am liebsten hätte sie hinzugefügt: Und nimm Garibaldi gleich mit.
Julius wurde blaß. »Gut, wenn du es so haben willst. Aber wenn ich jetzt aus diesem Zimmer gehe, dann ist es für immer. Ich werde nie wieder in deinem Leben auftauchen, das verspreche ich dir.«
Sie hielt ihm die Tür auf, und als er hinausging, schloß sie hinter ihm ab. Sie schob jeden Gedanken an Julius und an Garibaldi beiseite und atmete bewußt langsam und tief. Dann setzte sie sich an den Tisch und bereitete sich darauf vor, die letzte Rolle zu lesen.
Der fünfzehnte Tag
Dienstag,
28. Dezember 1999
Santa Fe, New Mexico
Der Tag brach über der Wüste an und schenkte der kalten schlafenden Welt sein goldenes Licht. Im Westen war der Himmel noch nachtblau, und noch leuchteten dort ein paar Sterne. Aber der östliche Horizont strahlte in majestätischem Glanz, wie es eigentlich nur in Filmen zu sehen war.
Erika achtete nicht auf die Schönheit der Natur. Sie hielt auf dem holprigen Weg das Steuer des Landrover fest umklammert. Sie hatte keinen Beweis, daß Kojote da draußen sein würde, aber seine Familie und die Polizei hatten bisher vergeblich nach ihm gesucht. Als er vor ungefähr einer Woche Erika zur Cloud Mesa gebracht hatte, verriet er ihr, daß kaum jemand diesen geheimen Platz kannte.
Es hatte sie gerührt und beeindruckt, daß der alte Schamane, der Häuptling der Sippe, einer weißen Ameri-kanerin ein solches Geheimnis anvertraute. Aber als sie nun auf dem schmalen steilen Weg, der dicht an der rauhen Felswand entlangführte, immer weiter nach oben fuhr und die Ebene immer weiter unter ihr zurückblieb, fragte sie sich, ob hinter diesem unerwarteten Vertrauensbeweis vielleicht doch eine Absicht gestanden hatte.
Auf der Hochebene angekommen, stellte sie den Motor ab und blickte sich suchend um. Sie wußte intuitiv, daß Kojote hierher gekommen war, um zu beten, weil er hoffte, den Sonnwend-Ka-china damit zur Rückkehr aus der Unterwelt zu bewegen. Und tatsächlich entdeckte sie den Schamanen: Er saß mit dem Gesicht nach Osten und gekreuzten Beinen auf einem Felsvorsprung am Rand der Mesa. Seine langen weißen Haare waren nicht geflochten, sondern wehten im Wind. Sein Körper war mit Lehm bestrichen.
Aber er betete nicht, er war tot.
Kloster Greensville, Vermont
Schwester Gabriele lief so schnell es ihre beinahe achtzig Jahre erlaubten und schüttelte verständnislos den Kopf. In der ganzen Geschichte des Klosters hatte die Glocke der Pforte bestimmt noch nie so stürmisch geläutet. »Geduld, Geduld, ich komme ja schon.«
Wer immer da draußen stand, dem mußten die Höllenhunde auf den Fersen sein.
Eisige Morgenluft schlug ihr ins Gesicht, als sie in den verschneiten Hof hinauseilte. Der Besucher läutete so stürmisch, daß sich Schwester Gabriele nicht einmal die Zeit genommen hatte, den Umhang über die Schultern zu legen, und deshalb zitterte sie jetzt vor Kälte unter dem schwarzen Habit. Sie schob die Holz-klappe vor der vergitterten Öffnung zurück und spähte hinaus. Die Welt lag noch im Halbdunkel, und sie konnte nur mit Mühe die Gestalten von drei oder vier Männern erkennen, die im hohen Schnee standen.
»Benedicte«, murmelte sie. Einer der Männer hielt ihr etwas vor das Gesicht. »FBI, Schwester«, sagte er mit tiefer Stimme. »Bitte öffnen Sie. Wir müssen in das Kloster.«
Schwester Gabriele sah einen Polizei-Ausweis. Der Mann hieß Strickland.
»Worum handelt es sich?« fragte sie. »Wir würden gern die Äbtissin sprechen, Schwester.«
»Es tut mir leid, aber Sie müssen mir schon sagen,
Weitere Kostenlose Bücher