Die Prophetin
worum es geht. Es ist gegen unsere Regeln…«
»Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich jemand bei Ihnen aufhält, der polizeilich gesucht wird.«
»Gütiger Himmel!« Schwester Gabriele hörte, daß der Schnee hinter ihr unter eiligen Schritten knirschte, und dann die Stimme der Äbtissin.
»Was gibt es, Schwester Gabriele? Wer hat geläutet?«
»Es ist die Polizei. Sie suchen jemanden.«
Die Äbtissin räusperte sich und nahm den Platz hinter dem Gitter ein. »Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte sie. »Wen suchen Sie?« Der Mann vor dem Tor hielt ein Photo hoch, das sie im Dämmerlicht kaum sah.
»Haben Sie diese Frau gesehen?« Die Äbtissin blickte lange und prüfend auf das Bild. Dann bekreuzigte sie sich und fragte: »Was hat sie getan?«
»Sie wird im Zusammenhang mit zwei Morden gesucht…«
»Morde!« Die beiden Nonnen bekreuzigten sich. »Möglicherweise sind es auch drei. Außerdem hat sie Eigentum einer fremden Regierung entwendet. Würden Sie bitte das Tor öffnen?«
Die beiden Frauen flüsterten kurz miteinander, dann sagte die Äbtissin. »Haben Sie einen Durchsuchungs-befehl?« Die Männer vor der Pforte wurden ungeduldig. »Schwester«, sagte der Beamte, der Strickland hieß, »es ist sehr kalt hier draußen, und wir wollen Dr. Alexander nur ein paar Fragen stellen. Wir sind nicht gekommen, um sie zu verhaften.« Nach erneutem Geflüster lief Schwester Gabriele eilig über den Hof zurück.
»Nun gut«, sagte die Äbtissin, schob den schweren Riegel zurück und öffnete die Pforte. »Aber bitte nur Sie, Mr. Strickland. Normalerweise haben Männer hier keinen Zutritt. Mehr als einer von Ihnen würde die Ruhe des Klosters stören.« Strickland bedeutete seinen Kollegen mit einer knappen Bewegung zurückzu-bleiben.
»Es tut mir wirklich leid, Schwester«, sagte er, als er ihr zum Hauptgebäude folgte. »Es ist mir unangenehm, Sie zu stören, aber ich habe meine Befehle. Wir suchen diese Frau schon seit zwei Wochen. Sie müssen in den Nachrichten davon gehört haben.«
»Wir hören hier kein Radio, und zu uns dringen auch sonst keine Nachrichten von draußen, Mr. Strickland.« Sie traten in die warme Vorhalle, und die Äbtissin musterte den Beamten. Er war ein korpulenter Mann Mitte Fünfzig mit einem geröteten Gesicht und einem Ausdruck geduldigen Leidens, als sei er schon zu lange in seinem Beruf. Er duftete schwach nach Kaffee und Zigarettenrauch. Sie streckte die Hand aus.
»Darf ich bitte Ihren Dienstausweis sehen?«
»Selbstverständlich.« Er gab ihr den Ausweis. »Sie haben doch sicher nichts dagegen, Mr. Strickland, daß ich die FBI-Dienststelle in Montpelier anrufe, um Ihre Identität zu überprüfen.«
Er seufzte. »Das steht Ihnen frei.«
Fünf Minuten später führte die Äbtissin ihn durch den Gang des Gästeflügels, wo Vater Garibaldi, Catherine und Dr. Voss am Abend zuvor Zimmer bezogen hatten.
Vor Catherines Tür blieb sie stehen, klopfte leise und rief: »Frau Dr. Alexander? Sind Sie wach? Sie haben einen Besucher.« Sie lauschten auf eine Antwort.
Die Äbtissin klopfte etwas energischer. »Frau Dr. Alexander? Sind Sie da?«
Strickland sah sich um. »Gibt es noch einen Ausgang?«
»Nein.«
»Könnte sie auf der Toilette, ich meine im Badezimmer sein?«
»Alle Zimmer haben in den fünfziger Jahren eigene Bäder bekommen.«
Er blickte über die Schulter zurück. »Und das ist der einzige Zugang?«
»Wenn Dr. Alexander weggegangen wäre, hätten wir sie gesehen.« Die Äbtissin klopfte noch einmal.
»Frau Dr. Alexander, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Schließen Sie auf«, sagte Strickland und fügte mit einem Blick auf die Äbtissin hinzu: »Bitte…« Die Äbtissin griff nach dem Schlüsselbund an ihrer Hüfte und schloß die Tür auf. Auf einem Stuhl lagen Kleider und Toilettenartikel; das zerknitterte Bettzeug wies darauf hin, daß jemand darin geschlafen hatte. Auf dem kleinen Tisch sahen sie einen Laptop mit dunklem Bildschirm. Das Fenster stand offen, der kalte Wind blies herein.
Die Äbtissin trat zum Fenster und blickte hinaus. »Frau Dr. Alexander muß diesen Weg benutzt haben. Sie wird da draußen erfrieren!«
»Sie hatte es offenbar eilig«, sagte Strickland und ging durch das kleine Zimmer. »Es sieht ganz so aus, als hätte sie jemand gewarnt.« Er musterte die Äbtissin mit zusammengekniffenen Augen. »Ist das alles, was sie bei sich hatte?«
Die Äbtissin seufzte und warf einen Blick auf die Sachen. Auf dem Boden unter dem Tisch
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