Die Prophetin
entdeckten sie eine blaue Tasche. »Ja«, sagte sie. »Ich glaube, das ist alles.«
Strickland blickte hinaus in den verschneiten Wald. »Ihre Kleider sind noch hier, sogar ihre Schuhe«, sagte er. »Sie wird nicht weit kommen. Wir finden sie.«
Es gab ein schreckliches Gemetzel im Ring der Steine. Dabei war es eine friedliche Versammlung. Wir wollten nur der besonderen geistigen Kraft dieses Platzes unsere Ehrerbietung erweisen und das Wunder der Sommersonnenwende erleben, wenn die Sonne direkt auf dem Altar aufgeht. Es waren Britonen, die uns angriffen, denn einige von uns waren Römer, wenn auch nur Trauen und Kinder.
Viele starben an diesem Tag, und wir hätten alle das Leben verloren, wenn nicht Cornelius Severus rechtzeitig mit seiner Legion eingetroffen wäre. Meine Freundin Claudia fand durch einen britoni-schen Speer den Tod. Aber sie gehörte zu jenen, die inzwischen dem Weg des Gerechten folgten, und das war mir ein gewisser Trost. Danach hielt ich mich von den Druiden fern. Und dann, Amelia, dann kam schließlich der Tag, vor dem ich mich schon so lange gefürchtet hatte: Cornelius Severus wurde in die Kolonie Agrippina oder ›Colonia‹, wie sie auch genannt wird, an den Rhein versetzt. Das bedeutete: Wir mußten zu den wilden Barbaren.
Als wir Britannien verließen und uns auf die Reise über die Nordsee in das Land der Germanen begaben, erfüllte Furcht mein Herz. Ich trug das Kreuz des Hermes auf der Brust, und ich suchte Trost und Hoffnung in den Worten des Marienbriefes. Ich las ihn jeden Tag meinen Mitreisenden vor, die ebenfalls mit Angst der Zukunft entgegensahen.
Philos war ein vorsichtiger Mann. Deshalb waren wir bei Reisen durch kriegerisches Gebiet oder unter gefährlichen Umständen nie zusammen, damit wir nicht möglicherweise alle drei gleichzeitig ums Leben kommen würden. Und so befand ich mich auf einem der sechs Schiffe des Cornelius Severus, Philos auf einem anderen und unser Sohn mit seiner Amme auf einem dritten. Tagelang hörten wir nur die Geräusche der Segel und der Ruder, die ins Wasser tauchten, und das Knarren der Plan-ken. Alles war ruhig. Wir hielten Ausschau nach Seeräubern, die dieses Meer im Norden heimsuchen, die Küste Galliens überfallen und friedliche Siedlungen plündern. Doch wir begegneten keinem feindlichen Schiff. Statt dessen überfiel uns ein sehr viel mächtigerer Feind.
Wir sahen plötzlich, wie sich am Horizont riesige dunkle Wolken zusammenballten. Noch ehe wir uns richtig vorbereiten konnten, brach der Sturm über uns herein. Die Böen kamen von allen Seiten, die Wogen schlugen höher, immer höher und nahmen den Männern am Steuer jede Sicht. Das Gefolge von Cornelius Severus war nicht mit dem Meer vertraut. Die Leute an Bord gerieten in Panik und waren der Schiffsbesatzung nur im Weg. Bald trafen Meer und Himmel in einem gewaltigen Mahlstrom zusammen, und ein tobender Wind aus Süden trieb uns vom Kurs ab. Der Sturm jagte unsere schwachen Schiffe über das wogende Meer und zerstreute sie in alle Richtungen, so daß wir schließlich keines der anderen fünf mehr sahen. Vor uns tauchten schließlich Inseln mit zerklüfteten Klippen auf. Der Kapitän kannte die tückischen Untiefen in dieser Gegend, aber er wußte nicht, wie er das Unheil verhindern sollte. Wir sahen, wie Männer über Bord gespült wurden; die Masten splitterten, die Segel zerrissen, und wir wurden auf dem Deck hin und her geworfen. Viele lagen auf den Knien und beteten, während die Seeleute Wasser schöpften und alles taten, um zu verhindern, daß die Fluten über uns zu-sammenschlugen. Das Schiff war zu schwer. Vorräte, Lasten, Tiere und alles Gepäck wurden über Bord geworfen. Wir hörten bebend das laute Wiehern der Pferde, die in die Wogen stürzten.
Nun war das Schiff zwar leichter, doch der Laderaum stand unter Wasser. Unsere Schwesterschiffe hatten wir schon lange aus den Augen verloren, aber plötzlich tauchte eines wieder auf. Hohe Flammen schlugen daraus empor. Es trieb hilflos auf dem tobenden Meer. Die Wogen schleuderten es gegen ein Riff; es brach auseinander und ging mit der Besatzung und allen Reisenden unter.
Philos war auf diesem Schiff gewesen.
Dann trieb die böse Macht des Verderbens unser Schiff auf die felsige Landspitze zu. Ich sah, wie sich ein riesiger Wellenberg vor uns auftürmte und die Wassermassen über uns zusammenbrachen, um uns alle in das nasse Grab zu reißen. In diesem Augenblick der Verzweiflung erinnerte ich mich an die Prophezeiung
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