Die Prophetin
verehren, er-zählte sie mir die Geschichte von Baidur. Er war ein mächtiger Gott, dem ein Pfeil zum Verhängnis wurde, der aus der Mistel gefertigt war. Das geschah, sagte Freida, weil zu der Zeit, als alle Pflanzen und Tiere, alle Metalle und Krankheiten Frigga, der Großen Göttin, schwören mußten, Baidur niemals zu schaden, die bescheidene Mistel wegen ihres unauffälligen Aussehens übergangen wurde. Und so verehre man bei den Völkern im Norden die Mistel, weil sie einen Gott zu Fall bringen konnte.
Ich zeigte Freida und den anderen Frauen, wie sie mit Hilfe von Blättern und Wurzeln des schwarzen Nachtschattens, den Philos ›Belladonna‹ genannt hatte, Fieber senken und Schmerzen lindern konnten. So erwarb ich mir allmählich Achtung und die Anerkennung der Sippe.
Es vergingen Monate und schließlich ein zweites Jahr. Ich stand jeden Tag am Ufer und blickte sehnsüchtig über das Meer. Ich sah im Geist eine römische Trireme mit der Flagge des Cornelius Severus auftauchen. Ich hörte eine vertraute Stimme, die mich rief. Ich sah Philos an Deck und Pindar an der Hand seiner Amme. Mein Heimweh wuchs, denn ich wurde ständig an Rom erinnert, weil viele Germanen römische Speere trugen. Ich mußte daran denken, daß Philos gestorben war, ohne zum Weg gefunden zu haben. Pindar hatte ich gelehrt, abends Gebete an den Gerechten zu sprechen, und so zog ich aus dem Wissen Trost, daß wenigstens mein Sohn in das Reich des Gerechten eingegangen war.
Doch ich konnte nicht aufhören, daran zu denken, was für einen schrecklichen Tod er erlitten haben mußte.
Wenn Besucher in das Dorf kamen, erkundigte ich mich, ob sie gehört hätten, daß die Römer eine Frau suchten. Aber sie konnten mir nie etwas darüber sagen. Als die Zeit verging, fragte ich mich, ob zu Hause alle glaubten, auch ich sei tot. Philos war tot, das wußte ich, also war ich Witwe. Und Pindar konnte den Sturm mit Sicherheit nicht überlebt haben. Das bedeutete, ich war auch kinderlos.
Lange Zeit ließen mich mein Leid und mein Schmerz nicht los. Meine Trauer war so greifbar, daß es mir erschien, als sei sie ein Teil von mir, und ich dachte, ich würde nie mehr etwas anderes als Schmerz und Leid fühlen.
Doch die Jahreszeiten kamen und gingen, und ich blieb bei der Sippe. Die feindlichen Stämme in der Umgebung hinderten mich daran, das Dorf zu verlassen, und machten es unmöglich, daß mich jemand von Freidas Leuten zur Grenze brachte. Und allmählich setzte eine Art Heilung ein.
Ich war inzwischen überzeugt, mein Glaube habe mich gerettet. Der Beweis dafür schien zu sein, daß ich, der einzige Mensch auf dem Schiff, der an den Weg des Gerechten glaubte, überlebt hatte. Rück-blickend, meine liebe Amelia, erkenne ich die Anmaßung dieser Vorstellung. Aber ich war jung und mußte noch vieles lernen.
Ich blieb meinem Glauben in diesem barbarischen Land treu, so wie ich ihn von Antiochia nach Indien und von Alexandria nach Britannien mit mir genommen hatte. Das gelang mir, indem ich andere am Glauben teilhaben ließ.
Freida war auch die Erzählerin der Sippe, und von ihr lernte ich, wie man eine Geschichte ausspinnt, die die Zuhörer viele Nächte lang in Bann hält. Ich sprach zu ihnen von dem Gerechten, von dem, was er gesagt hatte, und von seinen Gleichnissen. Ich berichtete von seinen Wundern, von den Heilungen und dem größten Wunder von allen: Er hatte den Tod überwunden. »Wir, die wir an den Weg glauben, leben ewig«, sagte ich ihnen. Und ich erzählte von dem Sturm auf dem Meer und dem Schiffbruch, den nur ich überlebt hatte. Leider war der Brief der Maria mit dem Schiff untergegangen. Aber ich hatte immer noch das Hermes-Kreuz. Ich zeigte es der Sippe und erklärte, daß Hermes, der jedes Jahr stirbt und wiedergeboren wird, eine Verkörperung des Höchsten ist, und daß sein Wort das Universum geschaffen hat. Ich lehrte sie, daß der Glaube an den Gerechten, daß frieden und Vergebung die Heim-kehr in sein Reich möglich machen werde.
Sie hörten mir zwar zu, aber in Wirklichkeit hörten sie mich nicht. Allerdings versuchten sie auch nicht, mich zu ihrem Glauben zu bekehren, obwohl mir gestattet wurde, bei ihren Ritualen in den heiligen Hainen anwesend zu sein. Wie Satvinder, wie die Buddhisten in Alexandria, wie Claudia und die Druiden, so hatte auch Freidas Volk eine eigene Art, den Göttern nahezukommen und die Ehrfurcht vor dem Unsichtbaren zu bezeugen. Ich erkannte zwar, daß sie alle fromme Menschen waren, doch ich
Weitere Kostenlose Bücher