Die Prophetin
die nach Staub und Zerfall roch, »war der vatikanische Hügel sehr viel kleiner als heute. Deshalb errichtete er eine Reihe von Stützmauern und füllte die Zwischenräume auf, um den Platz zu vergrößern. Auf diese Weise begrub Konstantin diese alte Totenstadt. Sehen Sie«, sagte er mit gedämpfter Stimme und richtete die Taschenlampe an die Decke, »das ist die Unterseite des Fußbodens von St. Peter. Vor eintausendsiebenhundert Jahren hätten wir an dieser Stelle in den Himmel geblickt.«
Catherine sah sich erstaunt um, denn sie gingen wie durch eine richtige Straße. Sie kamen an Höfen und Brunnen vorbei und an den Fassaden riesiger römischer Mausoleen, die wie Häuser aussahen. Sie hatten Türen, Schwellen, Fenster und manchmal sogar Treppen, die zu Dächern hinaufführten, die in die Fundamente der Kirche darüber eingebettet waren. Catherine spähte durch Fenster und Türen mit dem eigenartigen Gefühl, in den persönlichen Bereich von Menschen einzudringen. Aber es war alles Illusion – eine Totenstadt, die wie eine wirkliche Stadt aussehen sollte. Als sie durch die engen Straßen gingen, von denen Gassen abzweigten, die nirgendwohin führten, und an Fresken vorbeikamen, die idyllische Landschaften oder stille Plätze zeigten, fühlte sich Catherine wie in einem Labyrinth. Plötzlich überkam sie das beängstigende Gefühl, ohne einen wachsamen und erfahrenen Führer wie Vater Sebastian könnte man sich hier unten in der von Menschen geschaffenen Welt der Toten verirren und niemals gefunden werden. »Alle Gräber wurden bereits vor vielen Jahren geöffnet und ihr Inhalt entfernt.« Vater Sebastians Stimme klang körperlos und leise. Catherine zweifelte nicht daran, dieser Wächter der Toten wußte um alle Tragödien, Flüche und Frevel oder ahnte Geheimnisse, die besser im Dunkel der Erde blieben. Sie gingen an den geisterhaften ›Häusern‹ vorbei, und Vater Sebastian verstummte. Der Strahl seiner Taschenlampe fiel flüchtig auf einen springenden Delphin, eine Vase mit Blumen, einen Schwarm Vögel – Erinnerungen an Menschen, die längst tot und dem Bewußtsein der Lebenden entschwunden waren. Die Dunkelheit, die sie umgab, war so tief und beängstigend, daß Catherine nach Michaels Hand griff und dicht bei ihm blieb. »Es gibt noch sehr viel mehr Gräber«, Vater Sebastian sprach flüsternd weiter. »Die Totenstadt erstreckt sich in ganzer Länge unter dem Petersdom. Aber man kann sie nicht ausgraben, denn das würde seine Fundamente schwächen.«
Catherine glaubte, die mächtige Kirche mit ihrem lastenden Gewicht auf den Schultern zu spüren. Das Atmen fiel ihr immer schwerer. Ihr Herz pochte, und jeder Schritt schien sie tiefer in das Totenreich hi-neinzuziehen.
Vater Sebastian richtete den Strahl der Taschenlampe in ein Columbarium mit zahlreichen Nischen für Begräbnisurnen. »Man kann auf diesem Weg den allmählichen Übergang vom Heidentum zum Christentum erkennen. Je weiter man sich vom Grab des heiligen Petrus entfernt, desto mehr Urnen und Hinweise auf die alten Götter findet man. In der Nähe des heiligen Petrus befinden sich Gräber aus späterer Zeit, aus dem zweiten und dritten Jahrhundert, in denen die Toten und nicht nur ihre Asche beigesetzt wurden. Au-
ßerdem gibt es dort christliche Symbole, obwohl Überschneidungen oft eine klare Trennung kaum möglich machen.«
Er trat in ein Grabmal, und die beiden folgten ihm. Er beleuchtete die gewölbte Decke mit einem goldenen Mosaik, das Christus als Apollo im Sonnenwagen darstellte. Sonnenstrahlen gingen von seinem Kopf aus.
»Das hier ist ein Beispiel für den Übergang«, erklärte der Pater.
Catherine blickte auf das Gesicht, das erkennbar Jesus gehörte, und auf die Krone aus Sonnenstrahlen, und sie dachte daran, daß Sabina in den Hermestempel gegangen war, obwohl sie zu den Anhängern des Gerechten gehörte.
Viele der hier begrabenen Christen hatten Spuren ihrer alten Religionen in dem neuen Glauben hinterlassen, besondere Aspekte der alten Götter, die für sie von Bedeutung waren. Catherine wußte, daß man zum Beispiel Eigenschaften der Isis auf Maria übertragen hatte, die zu Stella Maris wurde, zur Gottesmutter und zur Himmelskönigin. Weihnachten ersetzte die römischen Saturnalien im Dezember, und der Sonntag ging auf den Mithraskult zurück.
Die Gräber schienen kein Ende zu nehmen, und Catherine fiel auf, daß es sich in der Mehrzahl um Begräbnisstätten von Frauen zu handeln schien. Tacitus hatte vor
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