Die Prophetin
zweitausend Jahren vermutlich zu Recht den neuen Glauben als ›eine Religion der Frauen und Sklaven‹ bezeichnet.
Während sie an mehr und immer mehr Frauengräbern vorbeigingen – darunter sogar dem einer anderen Amelia mit dem Familiennamen Gorgoni, fragte sich Catherine im stillen: Wann haben die Männer eigentlich die Macht übernommen? Sie stiegen noch tiefer unter die Basilika hinunter. Die Luft wurde immer muffiger und modriger. Die Dunkelheit riß nur flüchtig auf, wenn der Schein von Vater Sebastians Taschenlampe die Schatten traf, und schloß sich sofort wieder hinter den Eindringlingen wie ein undurchsich-tiger schwarzer Vorhang. Plötzlich fiel Catherine ein Satz aus der Bibel ein: »Am Jüngsten Tag werden die Toten von den Gräbern auferstehen…« Sie spürte ein Kribbeln im Nacken, als sie sich gegen ihren Willen vorstellte, wie sich um Mitternacht die Deckel der Steinsarkophage heben würden und die Toten ihre Grä-
ber verließen. Auch der heilige Petrus würde auferstehen und… »Was war das?« fragte sie plötzlich.
Michael sah sie an. Sein Gesicht war im schwachen Schein der Taschenlampe kaum zu sehen. »Was hast du?«
»Ich dachte…« Sie legte die Hand kurz auf die Augen. »Ach, schon gut. Ich weiß nicht. Es ist auch egal.«
Sie bogen in eine andere Straße ein, und dann hörten sie das Singen – zuerst leise, dann immer lauter wie eine anschwellende Woge.
Der Gesang mußte seinen Anfang irgendwo in der Menge genommen haben und von einem auf den anderen übergesprungen sein. Catherine glaubte, die Menschen mit ihren Lichtern auf dem Petersplatz vor sich zu sehen, deren Stimmen zum sternenübersäten Himmel aufstiegen: »Ave Mari-ia…« Es mußte bald Mitternacht sein. Lange konnten sie nicht mehr hier unten bleiben.
Besorgt fragte sie: »Vater Sebastian, sind Sie sicher, daß das Grab der Amelia Valeria hier ist?«
»O ja. Es gehört sogar zu unseren besonders schönen Gräbern.«
» A-ave, ave-e dominus…«
»Und hier«, der Strahl der Taschenlampe beschrieb einen Bogen, »hier haben wir es!«
Es war ein richtiges Gebäude mit zwei Stockwerken, das in einer der Straßen des alten Rom hätte stehen können. Außen war es rot angestrichen, und es hatte einen prunkvollen, von dorischen Säulen getragenen Ziergiebel. Die Innenwände waren mit weißem Gips verputzt. Darin befanden sich muschelförmige, mit zarten Blüten, Efeuranken und Vögeln ausgemalte Nischen. Eine besonders schön gestaltete Nische enthielt das Bild der schaumgeborenen Venus, zu deren Füßen sich Delphine aus Stuck in plastisch geformten Wellen tummelten. Im Grab herrschte die Atmosphäre eines eleganten Wohnzimmers.
»In diesen Nischen«, sagte Vater Sebastian leise und ließ den Lichtstrahl über die Wände gleiten, wo erstaunliche Beispiele römischer Kunst ans Licht traten, »befanden sich Urnen. Demnach war das einmal ein heidnisches Grabmal. Irgendwann wurde die Familie jedoch zum Christentum bekehrt, und wir glauben, das war dieser Frau zu verdanken.«
Der Lichtstrahl kreiste und beleuchtete ein wundervolles Fresko, das eine Familienszene zeigte. Im Zentrum befand sich eine Orante – die Darstellung der Verstorbenen in Gebetshaltung, das Symbol der Seelen-rettung. Unter der Gestalt stand ein Name: ›Amelia Valeria.‹
Die Menge über ihnen sang: »Benedictus tu in mulieribus…« Catherine trat näher, um das Fresko genau zu betrachten. Die Diakonin war in weiße Gewänder gekleidet, hatte die Arme ausgestreckt und richtete den Blick zum Himmel. Amelia mußte eine schöne Frau gewesen sein. Ihr Haar war kunstvoll in mehreren Lagen aufgesteckt, wie es die damalige Mode den adligen Frauen des römischen Reiches vorschrieb. Eine Frau, die an der Spitze der frühchristlichen Kirche stand, dachte Catherine. Eine christliche Priesterin…
War die siebte Rolle mit ihr begraben worden? Und würde sie den Beweis dafür enthalten, daß die Nachfolge Jesu rechtmäßig Frauen und nicht Männern zustand?
»Das hier zeigt uns, daß es sich um ein christliches Grab handelt.« Vater Sebastian wies auf den Sarkophag.
»Wir glauben, daß Amelia als erstes Mitglied der Familie nicht verbrannt wurde.«
»Hat man ihn geöffnet?« fragte Catherine flüsternd. Sie trat näher und legte die Hände auf den fein behauenen Marmor. »Nein. Nur heidnische Gräber wurden geöffnet. Alle Urnen, die natürlich die Asche von Heiden enthielten, befinden sich in Museen.«
Catherine las die in den Sarkophagdeckel
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