Die Prophetin
Stoß-
stange an Stoßstange; die Hupen machten einen Höllenlärm, die Fahrer schrien, und die Scheinwerfer ver-breiteten ein grelles Licht. Michael trug wieder die Soutane. Er hatte sich auf dem Rhein-Main-Flughafen umgezogen.
Der Freund, von dem er gesprochen hatte, war mit ihm in Chicago auf dem Priesterseminar gewesen und arbeitete im archäologischen Büro des Vatikan.
Sie staunten über die riesige Menschenmenge, die sich auf dem Petersplatz drängte. Beinahe jeder hielt irgendeine Art Licht in der Hand – Kerzen, Laternen, Taschenlampen. Die Gesichter der Menschen schienen zu leuchten wie auf einem riesigen Gemälde von George de la Tour.
Als Priester gelang es Michael, ihnen den Weg durch die Menge zu bahnen. Catherine sah im Vorbeieilen in den Gesichtern von Männern und Frauen, Jungen und Alten das gesamte Spektrum menschlicher Gefüh-le. Die einen weinten, andere lachten, aber viele hatten besorgte oder versteinerte Gesichter. Alle Augen richteten sich wie gebannt auf den Balkon, auf dem der Papst, der Nachfolger auf dem Stuhl Petri, erscheinen würde. Sie wurden mehrmals von der römischen Polizei und von der Schweizergarde angehalten, doch nach ein paar erklärenden Worten von Michael ließ man sie weitergehen. Sie trafen Vater Sebastian am Arco delle Campane auf der linken Seite des Doms. Er führte sie durch einen Hof, der dank hölzerner Bar-rikaden und den Doppelreihen der Gardisten menschenleer war. Sie eilten unter einem anderen Bogen hindurch, kamen um eine Ecke und gingen dann durch eine Tür mit einem Schild, auf dem stand: UFFICIO
SCAVI – Dienststelle für Ausgrabungen.
»Für einen Katholiken«, hatte Catherine in Aachen gesagt, »kann es nur einen einzigen heiligen Ort geben.
Ich meine die Stelle, wo Petrus begraben wurde.«
Das Grab der Amelia Valeria befand sich hier und, wie sie hofften, die siebte Schriftrolle ebenfalls.
Nachdem sie im Büro standen und die Tür hinter sich geschlossen hatten, stellte Michael seinen alten Freund Catherine vor. »Vater Sebastian hätte eigentlich auf den Sinai gehen und die Berichte über das Jesus-Fragment prüfen sollen.«
»Aber ich hatte die Grippe«, sagte der Priester. Es klang entschuldigend, wie Catherine fand, und eine Spur wehmütig, als bedaure er, ein Abenteuer verpaßt zu haben, wie Michael es erlebt hatte.
Catherine vermutete, daß Vater Sebastian etwas über vierzig war. Aber mit der dicken Brille wirkte er älter.
Er hielt sich leicht gebeugt, als habe er sein Leben über Büchern verbracht. Er war schlank, hatte helle Haut, kleine, fast zarte Hände und reichte Catherine kaum bis zu den Schultern. Er sprach so leise, daß es den Anschein hatte, er wollte nicht gehört werden. Catherine konnte sich nicht vorstellen, wie die vergangenen beiden Wochen ausgesehen hätten, wenn er anstelle von Michael auf den Sinai gefahren wäre.
»Wir müssen uns beeilen«, sagte Vater Sebastian und brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein. »Um Mitternacht werden die Tore für eine dreißig Tage dauernde Ausstellung der Gebeine des heiligen Petrus geöffnet. Die halbe Menschheit wird hinunter in die Grotten kommen!«
Er führte sie an Schreibtischen vorbei, auf denen sich Korrespondenz, Akten, Notizen und, wie Catherine auffiel, Tonscherben und Bruchstücke von Statuen türmten. Sie verließen das Büro durch eine Seitentür.
Dahinter befand sich ein enger Korridor, in dem eine Treppe nach unten führte. »Man würde uns sehen, wenn wir durch die Kirche gingen«, erklärte Vater Sebastian, und seine Stimme klang aufgeregt. Catherine überlegte, wieviel Michael ihm wohl gesagt hatte. Sie blickte auf die Uhr. Ja, sie mußten sich beeilen.
Wenn die Grotten dem Publikum zugänglich waren, bestand keine Möglichkeit mehr, Amelias Sarkophag zu öffnen.
Genau das aber mußten sie tun. Catherine wußte, wenn Michaels Vorgesetzte davon erfuhren, war die siebte Schriftrolle auf immer verloren.
Als die Tür des Büros hinter ihnen ins Schloß fiel und ihre Schritte auf der Eisentreppe verhallten, schlich sich ein Vierter leise und ungesehen in das UFFICIO SCAVI. Es war ein weißhaariger Mann in einer schwarzen Soutane, der offenbar in einer der vielen Dienststellen des Vatikan beschäftigt war. Außer einem Blut-fleck am weißen Kragen unterschied ihn nichts von den zahllosen Klerikern, die überall im Dom und auf dem Petersplatz zu sehen waren. Zeke ging eilig zwischen den Schreibtischen hindurch, blieb an der anderen Tür stehen, öffnete sie
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