Die Prophetin
Funde von Schriftrollen und Papyrusfragmenten erfahren. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, Mr. Hungerford. Wenn in Jerusalem das Gerücht kursiert, daß an einer bestimmten Stelle ein Fund vermutet wird, dann kaufen die interessierten Sammler das Haus, das an diesem Platz steht. Sie lassen im Keller Ausgrabungen durchführen, von denen die Behörden nie etwas erfahren. Wenn das Grundstück un-bebaut ist, wird manchmal sogar ein neues Haus darauf gebaut. Und nachdem die Grabungen beendet sind, wird es wieder abgerissen.«
»Ich verstehe immer noch nicht…«
»Ich versuche, Ihnen klarzumachen, Mr. Hungerford, daß Sie sich auf ein Spiel mit hohen Einsätzen einge-lassen haben. Es geht dabei um sehr viel mehr, als Sie sich vermutlich vorstellen können. Ihre Mitspieler, Mr. Hungerford, sind Ihre Gegner, und ich kann Ihnen versichern, sie sind nicht dumm.« Hungerford trat der Schweiß auf die Stirn. »Na ja, ich habe nicht im Traum…«
»Sie haben einen bestimmten Händler in Kairo angerufen und ihm gesagt, daß ein Jesus-Fragment und ein Korb mit Schriftrollen gefunden worden ist, aus dem das Fragment vermutlich stammt.«
Zeke bückte sich, als wollte er sich am Bein kratzen, aber als er sich wieder aufrichtete, sah Hungerford ein Stilett in seiner Hand blitzen.
»Mr. Hungerford, wir haben den weiten Weg nicht gemacht, um Zeit zu verlieren. Sagen Sie uns alles, was Sie wissen, und zwar schnell.«
Santa Fe, New Mexico
»Was sehen Sie?« fragte Erika Havers besorgt, während Kojote in den heiligen Rauch blickte.
Da der Schamane keine Antwort gab, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen am Pool, wo sich die ganze Familie versammelt hatte – ihre drei erwachsenen Töchter mit Kindern und Ehemännern. Sie waren gekommen, um mit ihnen Weihnachten und Silvester zu feiern. Der Pool war geheizt, Dampfwolken stiegen in den blauen Himmel von New Mexico. Der Wasserdampf über dem Pool war sehr viel dichter als die dünne Rauchfahne, die von dem Holz des Mesquitestrauchs aufstieg, das in der heiligen Schale glühte.
Der Schamane blickte in die Zukunft.
Erika konzentrierte sich wieder auf ihn. Was mochte er in dem Rauch sehen, der um seinen Kopf wirbelte?
Erika war protestantisch erzogen, hatte ihren Glauben jedoch während der Hippie-Zeit in den sechziger und siebziger Jahren aufgegeben und sich den östlichen Philosophien und Religionen zugewandt. Später, als Miles seinen ganzen Ehrgeiz daransetzte, sich in der neuen Computerwelt einen Namen zu machen und Erika ihre drei Kinder großzog, schien jeder Gedanke an Religion aus ihrem Leben verschwunden zu sein.
In letzter Zeit hatte sie jedoch eine seltsame Leere verspürt, eine Leere, die auf den Verlust von etwas Le-benswichtigem hinzuweisen schien. Sie beschäftigte sich mit New Age, einer Bewegung, zu der sich viele ihrer Freunde hingezogen fühlten. New Age versprach einen geistigen Neuanfang. Die Sehnsucht in Erika dagegen schien nach dem Wissen der Alten zu verlangen, nach einer geistigen Nahrung, die die Prüfungen der Zeit überstanden hatte. Eines Tages begegnete sie dem Schamanen in einer Ausstellung indianischer Kunst. Die Gesetze der Weißen zwangen seinem Volk seit mehr als hundert Jahren christliche und bürgerliche Namen auf, und so hieß er Luke Pifieda. Sein Stammesname war jedoch Kojote. Er war Pueblo-Indianer und das Haupt der Antilopensippe. Das machte ihn zum geistigen und politischen Führer seines Dorfes.
In seiner Obhut befanden sich die heiligen Kachinas. Von ihm hatte Erika etwas über Latiku, die mütterli-che Schöpferin der Welt, erfahren. Er hatte ihr auch die Geschichte von der Entstehung der Menschen er-zählt, als die Ahnen, die in den unterirdischen Regionen hausten, sich den Weg an die Oberfläche gebahnt hatten, um in der Sonne zu leben. »Was sehen Sie?« flüsterte Erika noch einmal. Diesmal schüttelte Kojote langsam den Kopf. Dabei streiften seine langen weißen Haare das dunkle Lederhemd. »Es ist sehr schlimm, Mrs. Havers. Das Ende der Welt ist wirklich nahe.«
Sie sah ihn ängstlich an. »Das sehen Sie im Rauch?« Seine Augen, die so hell waren, daß sie fast farblos wirkten, richteten sich auf die zierliche Frau mit den aschblonden Haaren. Aber er sah nicht das Äußere, verweilte nicht bei den Farben und Formen. Er blickte in das Wesen der Dinge. In seinem Dorf sagte man, die Sonne habe die Pigmente aus seinen Augen gebleicht. »Nein, nicht im Rauch. Der Rauch ist leer.« Erika verstand ihn. Er glaubte an
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