Die Prophetin
Er wird nichts verlauten lassen. Aber ich habe die Zeit genutzt und die Handschrift analysiert.«
»Und?«
»Nach einem ersten Überblick kann ich sagen zweites Jahrhundert.«
»Hat der Schädel, den du gesehen hast, etwas damit zu tun?«
»Wenn ja, dann wurde jemand in den Brunnen geworfen oder ist hineingefallen.«
»Jemand?«
»Vielleicht war es eine Frau…«
Von weitem hörte man den Ruf des Muezzin von einem Minarett: »Allahu akbar… « Der Gebetsruf zum Sonnenuntergang bedeutete auch, daß es Zeit zum Abendessen war. Es roch bereits nach Lammbraten und Kaffee.
»Trotzdem verstehe ich dich nicht, Cathy. Warum hast du die Behörde in Kairo nicht über den Fund informiert? Und warum willst du abreisen?«
»Danno, sieh dir die Seite, die du gerade gelesen hast, in meiner Übersetzung noch einmal an. Hier, die Anrede.«
» ›Amelia, verehrte Diakonos…‹« Daniel runzelte die Stirn. »Nun ja, sie war eine Diakonin. Das ist nicht ungewöhnlich.«
»Du vergißt, das griechische Wort für Diakonin ist Diakonissa. Aber hier steht Diakonos.«
» Ein Schreibfehler?«
»Das glaube ich nicht. Es gibt nur eine einzige Stelle in der Bibel, an der eine Frau mit dem männlichen Titel erwähnt wird – Römer, Kapitel sechzehn. Paulus spricht von Phöbe als Diakonos. Wir haben nur dieses eine Beispiel, daß eine Frau ein so hohes Amt bekleidete, denn der Diakon, der Priester, stand am Altar.
Später wurde eine weibliche Form geprägt, und die Pflichten der Diakonin beschränkten sich darauf, die Kranken und Alten zu pflegen.«
»Wenn du beweisen kannst, daß die Schriftrollen aus dem ersten Jahrhundert stammen…« Daniel nickte ernst, denn er wußte plötzlich, weshalb Catherine nicht die Behörde in Kairo informieren wollte… Der Grund war ihre Mutter. Daniel hatte Dr. Nina Alexander gut gekannt und sehr gemocht. Im Gegensatz zu den Eltern anderer Kinder hatte Catherines Mutter niemals Anstoß daran genommen, daß er zu den wenigen Stipendiaten der Schule gehörte, daß er auf der falschen Seite< der Stadt wohnte und nicht wußte, wer sein Vater war. Sie war immer freundlich zu ihm gewesen, und er war in ihrem Haus stets willkommen.
Beim Tod seiner Mutter war er neunzehn, und Nina Alexander stand neben ihm am Grab und tröstete ihn.
Daniel war in der Nacht, als Nina Alexander starb, im Krankenhaus gewesen und hatte mit eigenen Augen gesehen, daß sie eine gebrochene Frau war. Und alles nur deshalb, weil sie für das eingetreten war, woran sie glaubte.
Catherines Mutter war Paläographin gewesen, eine weithin anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Datierung von Handschriften. Berühmt wurde sie jedoch durch ein Buch, das sie unter dem Titel Maria Magdalena, die erste der Apostel veröffentlichte. Darin behauptete sie, daß die Autorität des Papstes, die auf der apostolischen Nachfolge beruhte und ihren Anfang damit nahm, daß angeblich der heilige Petrus den auferstandenen Jesus als erster gesehen hatte, nicht zu rechtfertigen sei. Alle vier Evangelien berichteten, so argumentierte Nina, daß Frauen als erste das leere Grab gefunden hatten. Und in zwei Evangelien hieß es, daß der auferstandene Jesus zuerst Maria Magdalena erschienen war und nicht Petrus, der sich aus Angst um sein Leben versteckt hatte.
Mit dem Neuen Testament als Quelle und als Beweis war Dr. Alexander zu dem Schluß gekommen, nicht Petrus, sondern Maria Magdalena müsse die Nachfolgerin Jesu gewesen sein. Dieses Buch hatte Catherines Mutter die erbitterte Feindschaft der Kirche eingebracht.
»Du glaubst also«, fragte Daniel jetzt leise, »die Schriftrollen könnten den Beweis dafür liefern, daß die Theorie deiner Mutter richtig ist?«
Catherine antwortete ebenso leise: »Die Kritiker meiner Mutter haben darauf hingewiesen, daß im ersten Brief des Paulus an die Korinther, in dem er über die Auferstehung spricht, Maria Magdalena nicht erwähnt wird und auch keine andere Frau, ja nicht einmal das leere Grab. Wir wissen, daß die Briefe des Paulus an die Korinther mindestens zwanzig Jahre vor dem Auftauchen der Evangelien in schriftlicher Form entstanden sind, und deshalb besitzt sein Werk wegen der zeitlichen Nähe zu den Ereignissen größere Autorität.
Was aber, Danno, wäre, wenn diese Schriftrollen früher geschrieben wurden als die Briefe des Paulus?«
Catherine legte die Bücher vorsichtig aufeinander. »Wenn sie Hinweise auf Frauen am Grab enthielten, vielleicht sogar auf Maria Magdalena?« Danno lachte leise.
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