Die Prophetin
war unmöglich! Der Schamane kam nur wegen Erika ins Haus.
Miles blickte noch einmal zu seiner Frau hinüber. Selbst nach all den vielen Jahre liebte er sie. Das heißt, er liebte sie nicht nur, er war noch immer in sie verliebt. Sollte sie ihn bitten, ihr den Mond zu schenken, wür-de es ihm irgendwie gelingen, ihr den Mond in Silberpapier verpackt zu überreichen. Als Miles den Fahrstuhl erreicht hatte, ließ er die Familie hinter sich und zog sich in sein abgeschirmtes Büro zurück – ein runder Turm an der Ostseite des Anwesens. Das Turmzimmer unter den Zinnen hatte Fenster nach allen Himmelsrichtungen und war in den Tönen Goldgelb und Burgunderrot gehalten und sparsam mit wenigen Designermöbeln eingerichtet. Es hatte indirekte Beleuchtung und einen weichen dunkelblauen Seidentep-pich. Sein Büro unterschied sich damit von dem für Santa Fe typischen, spanisch beeinflußten Stil. Hierher, an den höchsten Punkt im ganzen Haus, wo er mit den Bergen auf einer Höhe zu sein schien, zog sich Miles zum Entspannen und Nachdenken zurück.
Zwei Dinge beschäftigten ihn an diesem Dezembermorgen, genau zwei Wochen vor der Jahreswende: Zekes Auftrag auf dem Sinai und die Aktennotiz seines Anwalts zu dem geplanten Kauf des letzten Software-Herstellers in Privatbesitz für eine Milliarde Dollar. Sein bester und erfahrenster Berater machte ihn darauf aufmerksam, daß das Justizministerium beabsichtige, den Kauf dieses Unternehmens zu verhindern. Sollen sie es doch versuchen, dachte Miles und drückte auf einen Knopf. Lautlos öffnete sich die Tür der Bar. Er genehmigte sich einen Drink. Vor dem Justizministerium hatte er keine Angst. Wann immer er sich etwas in den Kopf setzte, führte er die betreffende Sache auch zum Erfolg. Nichts würde ihn daran hindern, die absolute Kontrolle über die Software-Industrie zu erreichen. Natürlich gefiel das der Konkurrenz und der Regierung nicht. Miles lächelte spöttisch, denn er wußte, daß am Ende nur Erfolg und Macht zählten. Und er besaß beides. Auch diesmal würde er schließlich der Sieger sein.
Er leerte sein Glas, und sein Lächeln verschwand, aber das lag nicht an dem scharfen, bittersüßen Geschmack in seiner Kehle. Er erinnerte sich an eine herbe Niederlage. Die Kopernikus-Tagebücher.
Miles hatte von den Tagebüchern kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erfahren. Damals waren viele Schätze wieder aufgetaucht, die seit dem Zweiten Weltkrieg als verloren gegolten hatten. Ein vertrauenswürdiger Vermittler hatte für Miles ein Geheimabkommen mit den Russen eingefädelt. Er erwarb die Tagebücher des polnischen Astronomen aus dem sechzehnten Jahrhundert zum stattlichen Preis von dreißig Millionen Dollar für seine Privatsammlung. Bald, nachdem sich die Tagebücher in seinem Besitz befanden, wurde die Sache bekannt, und ein weltweiter, empörter Aufschrei war die Folge. Wissenschaftler, Forscher und Bürger erhoben Einspruch und erklärten, dieses einzigartige Dokument der Vergangenheit sei Eigentum der ganzen Menschheit.
Miles wollte nicht auf die Tagebücher verzichten, aber er mußte an seinen Ruf denken. Deshalb ließ er erklären, es sei von Anfang an seine Absicht gewesen, die Tagebücher der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Die Tagebücher befanden sich mittlerweile als Leihgabe in der Universität von Warschau. Praktisch waren sie noch sein Eigentum, aber nachdem sie in so viele andere Hände gelangt und der Öffentlichkeit zugänglich waren, hatte Miles das Interesse daran verloren.
Er füllte ein Glas mit Wasser und trank es langsam, wie um sich von dem unangenehmen Geschmack seiner Erinnerungen zu befreien. Seine Gedanken richteten sich auf die Aktennotiz. Das Justizministerium warf ihm vor, den Software-Markt zu monopolisieren. Das entsprach der Wahrheit, aber er würde es natürlich leugnen.
Ein Lichtsignal machte ihn darauf aufmerksam, daß jemand vor der Tür stand. Er drückte einen Knopf, und die Tür öffnete sich. Ein schlanker Asiate mit zwei Ringen in einem Ohr und schwarzen Haaren, die er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, der ihm bis zur Hüfte reichte, kam herein. Er legte einen Aktenordner auf die große schwarze Granitplatte des kreisrunden Schreibtischs, auf der nichts außer einer leuchtendgelben Orchidee stand.
»Hier sind die Unterlagen, die Sie angefordert haben, Mr. Havers.«
Es war eine dicke Akte, und als Miles darin blätterte, sah er, daß Teddy Yamaguchi beachtlich viele Informationen
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