Die Prophetin
durch und durch Wissenschaftler war. Er hielt nichts von Risiken oder davon, eine Theorie zu veröffentlichen, bevor alle Fakten geklärt waren. Er beachtete stets die Vorschriften, vertraute nur auf die erprobten Wege und verwarf zweifelhafte Methoden prinzipiell. Trotzdem hatte sie auf eine andere Reaktion gehofft.
»Nein, es war nicht klug«, erwiderte sie. »Aber es war notwendig, Julius! Wenn ich die Texte der Behörde übergebe, werde ich sie nie wiedersehen.«
»Das ist eine Behauptung.«
»Wer durfte die Ecole Biblique in Jerusalem betreten? Erinnere dich daran, was alles notwendig war, um die Schriftrollen vom Toten Meer der Wissenschaft zugänglich zu machen? Ich habe keine Zeit, vierzig Jahre darauf zu warten, daß ich diese Bücher übersetzen darf.«
»Catherine, das wäre in diesem Fall anders. Du könntest sofort die Öffentlichkeit über deinen Fund informieren und an alle Wissenschaftler appellieren. Man würde dich rückhaltlos unterstützen.«
Catherine schüttelte den Kopf. »Darauf kann ich es nicht ankommen lassen.«
»Du tust also genau dasselbe, was die Wissenschaftler an der Ecole getan haben. Auch sie wollten niemandem erlauben, die Schriftrollen zu sehen. Du bist entschlossen, diese Schriftrollen allen anderen vorzuenthalten.«
»Mit einem Unterschied. Ich werde sie nicht vierzig Jahre lang verstecken. Ich werde sie nur so lange behalten, bis ich sie übersetzt habe. Danach werde ich die Texte den zuständigen Stellen übergeben und meine Übersetzung veröffentlichen.«
»Gut, du willst sie übersetzen und deine Ergebnisse veröffentlichen. Du willst deine These mit Material erhärten, das auf fragwürdige Weise gefunden wurde. Wer wird auf dich hören, Catherine? Ich kann dir jetzt schon sagen, daß man dich von allen Seiten angreifen wird. Wir beide wissen, wie empfindlich die Bibel-Wissenschaftler sind, wie eifersüchtig die verschiedenen Fraktionen ihre Theorien verteidigen und wie gefährlich ihre Angriffe sind. In deiner Mutter hast du ein gutes Beispiel. Und sie hat sich streng im Rahmen des Neuen Testaments bewegt! Du hast etwas gefunden, aber bis jetzt hast du weder deinen Fund noch deine Arbeitsmethoden veröffentlicht. Niemand weiß, wie die Texte in deinen Besitz gelangt sind. Du machst dich überstürzt an eine Übersetzung. Man wird dich auslachen oder als Verrückte abstempeln, das wäre noch das Harmloseste!« Er stand auf und setzte sich neben sie auf die Sessellehne. »Catherine, hör auf mich.« Er griff nach ihren Händen. »Ich verstehe gut, was dieser Fund für dich bedeutet, und ich glaube auch zu wissen, warum du das alles auf dich nimmst. Aber auf diese Weise kannst du den Ruf deiner Mutter nicht wiederherstellen. Man wird dich im wahrsten Sinne des Wortes kreuzigen. Du wirst alles verlieren, wofür du so schwer gearbeitet hast. Du verlierst deine Glaubwürdigkeit. Man wird dich als Wissenschaftlerin nicht mehr achten. Du bekommst keine Grabungsgenehmigung mehr, und kein wissenschaftlicher Verlag wird deine Arbeiten veröffentlichen. Wie willst du nach einem Skandal deiner Mutter helfen?«
Er schüttelte den Kopf und seufzte. Dann holte er tief Luft und sagte ruhig und mit fester Stimme: »Deshalb bitte ich dich, übergib die Schriften dem ägyptischen Konsulat in San Francisco. Noch ist Zeit dazu.
Du kannst erklären, daß du Grund zu der Annahme hattest, man werde sie stehlen oder vernichten. Du kannst sagen, du hast sie aus Ägypten herausgebracht, um diese wertvollen Texte zu schützen. Noch kannst du dich retten, Catherine.« Sie schüttelte den Kopf.
»Das bedeutet, daß du als Archäologin Selbstmord begehst«, sagte er ernst. »Du stellst deine Integrität in Frage. Man wird dir Charakterlosigkeit vorwerfen, und du wirst keine Freunde mehr haben. Niemand wird etwas mit dir zu tun haben wollen.«
»Und du?« fragte sie leise.
»Ich werde immer an deiner Seite stehen, Catherine. Das weißt du. Trotzdem muß ich dir die Augen öffnen. Und ich muß gestehen, ich habe Angst.«
»Ich habe auch Angst, aber ich muß es tun, Julius. Wie soll ich weiterleben, wenn ich jetzt nicht Fakten schaffe, solange ich noch die Möglichkeit dazu habe? Wie kann ich in dem Bewußtsein weiterleben, daß ich nicht alles getan habe, um die Anschuldigungen zu entkräften, die man gegen meine Mutter erhoben hat?«
»Das willst du tun, indem du deinen eigenen guten Namen aufs Spiel setzt?«
»Wenn nötig, ja. Mir bleibt später noch die Möglichkeit einer
Weitere Kostenlose Bücher