Die Prophetin
und dabei schimpfte: ›Du bist ein freches und schamloses Mädchen! Du wirst für deine Frechheit büßen!‹ Catherine legte sich den Regenmantel über die Schultern und sagte: »Ich muß mich bei Schüller melden und ihm sagen, wo ich bin.«
»Gut, ich hole noch meinen Poncho, dann können wir los.«
»Ich hole den Poncho«, sagte sie und ging bereits in sein Schlafzimmer. »Du überprüfst das Treppenhaus und vergewisserst dich, daß uns niemand erwartet.«
Als sie den Kleiderschrank öffnete und nach dem Poncho suchte hörte sie, wie Daniel rief, es sei doch besser, die Photos in die Einkaufstasche zu seinem Maya-Material zu legen. Catherine nahm den Poncho vom Bügel, verlagerte die schwere Nylontasche von der rechten Schulter auf die linke und rief in Richtung Flur:
»Was hast du gesagt…?«
Aber Daniel war nicht an der Wohnungstür. Er stand auf der anderen Seite des Wohnzimmers mit dem Rücken zu den Lautsprechern der Stereoanlage. Zwei Männer hielten ihn fest. Catherine sah alles gleichzeitig: Den Mann mit dem weißblonden Haar und der roten Narbe im Gesicht, Daniels Entsetzen, ein blitzen-des Messer und plötzlich hellrotes Blut. Wie in Zeitlupe sank Daniel leblos zu Boden. Die beiden Männer wichen zurück. Der Umschlag fiel Daniel aus der Hand, Schwarzweiß-Photos verteilten sich auf dem Teppich, die beiden Männer blickten auf Catherine, der eine machte einen Schritt auf sie zu. Seine Schuhspitze wurde rot vom Blut, das Daniels Kopf umgab.
Sie starrte auf Daniels Gesicht – sein erstaunter Ausdruck wirkte wie erstarrt, die Brille war verbogen, in den blauen Augen unter den blonden Wimpern war das Licht erloschen. Dann rannte sie los.
An der Wohnungstür stolperte sie über den Laptop, den Daniel dort abgestellt hatte. Sie griff blindlings danach und stürmte ins Treppenhaus. Die beiden Männer waren ihr dicht auf den Fersen. Im Gang stieß Catherine mit einer Hausbewohnerin zusammen, die eine Einkaufstüte trug.
»He!« rief die Frau empört, während Dosen, Orangen, ein tiefgekühlter Truthahn und ein Weihnachtsstern auf den Boden fielen. Catherine rannte weiter. Hinter sich hörte sie Schritte. Eine tiefe Stimme befahl ihr, stehenzubleiben. Und dann… Ein ohrenbetäubender Knall.
Sie blickte nach oben und sah, daß Farbe und Putz von der Wand regneten. Ihre Füße berührten kaum noch die Stufen, während sie blitzschnell weiter die Treppe hinunterrannte. Als sie die Haustür erreichte und keuchend in die Nacht stürmte, fiel ein zweiter Schuß. Sie lief den regennassen Gehweg entlang und warf ängstlich einen Blick über die Schulter zurück. Ihre Verfolger hatten den Hauseingang erreicht…
In diesem Augenblick stieß Catherine mit jemandem zusammen. Sie stürzte, und der Laptop fiel auf den Asphalt. »Geben Sie mir Ihre Hand!« rief der Mann und zog sie wieder hoch. Catherine schob sich die Haare aus dem Gesicht und sah ihn fassungslos an. Es war Garibaldi. »Haben Sie sich ver…«, wollte er fragen.
Wieder hallte ein Schuß durch die Nacht. »Laufen Sie!« schrie Catherine und hob den Laptop auf. »Was ist denn…«
»Laufen Sie!«
Sie rannten durch den Regen, Catherine voraus, Garibaldi dicht hinter ihr. Sie bogen um die nächste Stra-
ßenecke und erreichten Catherines Leihwagen.
»O nein!« keuchte sie. Die Reifen waren aufgeschlitzt. Als die beiden Männer mit schußbereiten Waffen an der Straßenecke auftauchten, griff Garibaldi nach Catherine und zog sie geistesgegenwärtig vom Gehweg.
Kugeln schlugen in den Wagen. Sie rannten geduckt über den nassen Rasen und in einen engen Durchgang zwischen zwei Mietshäusern. Sie hörten weitere Schüsse. Catherine glitt auf dem glitschigen Beton aus und fiel gegen eine Hauswand. Garibaldi rief etwas, packte sie am Arm und zog sie weiter. Sie rang nach Luft und glaubte, das Herz werde ihr zerspringen.
Sie erreichten die Straße an der Rückseite der Häuser. Garibaldi riß die Beifahrertür eines blauen Mustangs auf, der dort geparkt war und rief: »Steigen Sie ein!«
Catherine fiel auf den Sitz. Garibaldi ließ den Motor an. Als er mit quietschenden Reifen anfuhr, heulte in der Nähe ein anderer Motor auf. Der blaue Mustang raste durch die verlassene Straße. Es dauerte nicht lange, bis hinter ihnen Scheinwerfer auftauchten. Catherine kauerte sich noch immer keuchend in den Sitz.
Alles um sie herum schien zu verschwimmen – Häuser, Lichter, Ampeln. »Sie holen auf!« stieß sie atemlos hervor.
Garibaldi bog um die nächste
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