Die Prophetin
Inzwischen war eine sternenlose Nacht angebrochen. Neonlichter halfen ihnen, sich zu orientieren, aber sie sahen nur die roten ›Kein Zimmer frei‹-Leuchttafeln der Motels. Als sie endlich wieder ein grünes Schild mit ›Zimmer frei‹ erreichten, stellte sich heraus, daß es auch in diesem Motel nur noch ein Zimmer gab. Beim dritten Versuch, bei einem Dew Drop Inn, das sehr sauber aussah und aus kleinen, durch Kieswege miteinander verbundenen Bungalows bestand, beschlossen Catherine und Garibaldi, den letzten freien Einzimmer-Bungalow zu nehmen. Die lange Fahrt setzte ihnen beiden zu. Catherine hatte nicht nur einen steifen Rü-
cken, sondern auch Kopfschmerzen, und Garibaldis Wunde machte ihm zu schaffen.
Als sie in dem Zimmer waren und die Tür abgeschlossen hatten, verschwand Garibaldi mit seiner Tasche im Bad und kam in Jeans und einem Sweatshirt mit dem verblaßten Aufdruck ›Loyola University‹ wieder zurück. Er hatte auch den Verband von der Wunde entfernt.
Catherine betrachtete sich seinen Arm. Der Streifschuß war verkrustet, aber die Wunde sah entzündet aus.
Deutete das auf eine Infektion hin?
»Ich bin der Meinung, Sie sollten schnellstens nach Chicago fahren«, sagte sie. »Ein Arzt müßte die Wunde behandeln.« Sie legte ihm einen neuen Verband an, und er rollte den Hemdsärmel darüber. »Der Arm ist in Ordnung.«
»Vater Garibaldi, in Ihrer Pfarrei wird man sich fragen, wo Sie sind. Und was ist überhaupt mit Ihren Angehörigen?« Er drehte ihr den Rücken zu und griff nach dem Laptop. »Ich habe keine Angehörigen«, murmelte er.
Sie staunte über die sichtliche Spannung, die ihre Bemerkung ausgelöst hatte, und erinnerte sich daran, wie sie mitten in der Nacht aufgewacht war und gesehen hatte, daß er am Fenster betete. Er hatte sich über die gefalteten Hände gebeugt und den Kopf auf die Arme gelegt. Es war mehr die Geste eines Flehenden gewesen als die eines Priesters, der einfach ein Gebet sprach.
»Sollen wir uns eine Pizza bringen lassen und sofort mit der Arbeit anfangen?« fragte er.
Sie blickte in seine klaren blauen Augen, die wieder offen und freundlich und nicht mehr so verschlossen und dunkel wirkten wie noch kurz zuvor.
Was hat ihn letzte Nacht so sehr beschäftigt, als er leidenschaftlich betete?
»Vergessen Sie die Pizza«, er griff nach den Wagenschlüsseln, »ich habe nicht weit von hier ein Restaurant gesehen. Schließen Sie hinter mir ab und lassen Sie niemanden herein.«
Als er zurückkam, trug Catherine ihren Bademantel. Sie hatte geduscht und ihre Sachen im Waschbecken gewaschen. Jetzt saß sie vor dem Fernseher und suchte einen Sender mit Nachrichten. »Haben Sie etwas über Daniel Stevenson gebracht?« fragte Garibaldi und stellte die weißen Kartons auf den Tisch. In den Nachrichten war nichts über Daniel zu erfahren, alle Berichte kreisten um die bevorstehende Jahrtausendwende – wachsende Hysterie, Selbstmorde, exzessive Parties, noch nie dagewesene Großzügigkeit und Spenden. Bedrohlicher klangen Meldungen von paramilitärischen Gruppen, die offenbar glaubten, der apokalyptische Weltuntergang werde ein Kampf zwischen ihnen und der Polizei sein. Terror-Anschläge und ein Wettlauf des FBI mit Massenvernichtungsdrohungen, die seit 1995, nach der Bombenexplosion in Ok-lahoma, die Regierung und die Geheimdienste in Atem hielten, waren aus den Nachrichten schon lange nicht mehr wegzudenken. »Die Welt scheint wirklich am Rande des Wahnsinns zu stehen«, sagte Garibaldi und schüttelte den Kopf.
»In dieser Welt scheint es nur noch Terror und sinnlose Gewalt zu geben«, antwortete sie bitter. Sie kämpfte schon den ganzen Tag gegen ihre ohnmächtige Wut an. Am liebsten hätte sie sich längst auf die Suche von Dannos Mördern gemacht. Aber im Augenblick mußte sie sich in ihr Schicksal fügen. »Wie soll das alles enden?« Die qualvolle Hilflosigkeit machte sich in ihren Worten Luft. »Wann wird das Kämpfen und Töten endlich aufhören?« Sie schaltete den Fernsehapparat aus, zog den Gürtel des Bademantels enger und dachte wieder daran, daß sie unbedingt etwas zum Anziehen brauchte. Als sie den Reis, die Shrimps, Früh-lingsrollen und die anderen verführerisch duftenden Gerichte sah, bekam sie Hunger.
»Sie waren lange weg«, sagte sie. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. «
»Ich war noch kurz in der katholische Kirche im Ort.« Garibaldi suchte in der Tragetüte nach den Eßstäbchen und Servietten.
»Vater Garibaldi«, sagte Catherine, denn
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