Die Prophetin
Palast auf und ab ging. Auch von hier hatte man einen Blick auf den Petersplatz, wo die Wachen nur mit Mühe die Menschen unter Kontrolle halten konnten, die sich dort drängten.
Der Kardinal fühlte sich angegriffen und rechtfertigte sich stumm.
Wir haben doch nur versucht, die Kirche vor Häretikern und Teufelsanbetern zu schützen. Man hat uns beschimpft, anstatt uns Beifall zu zollen…
Lefevre zwang sich, dem Strom seiner Gedanken Einhalt zu gebieten. In letzter Zeit, das wurde ihm plötzlich bewußt, verselbständigten sich seine Gedanken immer öfter. Er überließ sich abstrakten Erörterungen oder Erinnerungen, anstatt sich auf die Alltagspflichten zu konzentrieren. Während er sich den unberechen-baren Windungen seiner Gedanken überließ, unbekannte Wege beschritt und sich im Labyrinth seiner In-nenwelt verirrte, war der Zeitungsartikel vergessen. Aber die Schlagzeile, das Porträt einer Frau und die Photographie des Jesus-Fragments mit dem beunruhigenden Inhalt waren der Anlaß für die außerplanmäßi-ge und dringende Audienz beim Papst. Die Angelegenheit mit dem geheimnisvollen Fund auf der Sinaihalbinsel, der ihn in Alarmbereitschaft versetzt hatte, nahm eine unvorhergesehene und gefährliche Wendung.
Der alte Kardinal richtete sich auf. Er war mit seinen fünfundsiebzig Jahren noch immer groß und im Voll-besitz seiner geistigen Kräfte. Freundlich lächelnd sah er die anderen an, die ebenfalls darauf warteten, den Papst zu sehen. Er wollte auf jeden Fall verhindern, daß man ihm seine Sorgen ansah. Aber alle Anwesenden, die um eine Audienz nachgesucht hatten, kamen mit Sorgen zu seiner Heiligkeit. Kardinal Lefevre nickte Bischof Monduzzi zu, dem Präfekten des päpstlichen Haushalts, der sich angeregt mit dem Präfekten der Heiligen Kongregation für katholische Erziehung unterhielt. Unter dem Caravaggio stand Vater Bailey vom Vatikansender, den die Jesuiten betrieben. Der Mönch in der braunen Kutte, der nachdenklich eine alte römische Büste betrachtete und ein Manuskript unter dem Arm trug, kam zweifellos von der Libreria Editrice Vaticana, dem Verlag des Vatikans. Auch Besucher in dunklen Anzügen, katholische Laien aus verschiedenen Ländern, saßen auf den mit rotem Brokat bezogenen Sesseln oder gingen unruhig auf und ab. Die Besucher waren fast ausschließlich Männer. Nur wenige Frauen baten um eine Audienz beim Papst.
Die Nonne in der grauen Tracht, das wußte Lefevre, kam wegen ihrer Missionsstation in Angola, und die Schwester in Weiß arbeitete im Gesundheitsdienst des Vatikans. Hin und wieder erschien auch eine Dele-gation, um eine Bittschrift zu übergeben, in der man Seiner Heiligkeit nahelegte, Frauen die Priesterweihe zu gestatten, aber Seine Heiligkeit machte den Frauen niemals falsche Hoffnungen. Kardinal Lefevre nahm seinen Gang durch das Vorzimmer wieder auf. Die hagere Gestalt warf lange Schatten auf die alten Möbel und kostbaren Gemälde. Er war schon immer einen Kopf größer als seine Mitmenschen gewesen.
›Du bist für Paraden wie geschaffen!‹ pflegte sein Vater im Scherz zu sagen.
Lefevre lächelte bei der Erinnerung. Papa…
Es wäre schön, Papa wiederzusehen. Ein langer Weg schien ihn von den Tagen der Kindheit in dem kleinen Dorf in der Provence zu trennen. Wie viele Jahre war es eigentlich her, daß… Unmöglich! Die Zeit verging wie im Flug. Hatte er die geliebten Eltern tatsächlich vor einem halben Jahrhundert beerdigt? »Eminenz?«
Lefevre kniff die Augen zusammen und sah den jungen Priester an, der ihn offenbar angesprochen hatte.
»Seine Heiligkeit lassen bitten«, sagte der junge Mann und führte ihn zur Tür. Der Kardinal richtete sich noch einmal energisch auf und konzentrierte sich ganz auf seine Aufgabe. Die Angelegenheit war zu wichtig, um sich von nostalgischen Erinnerungen ablenken zu lassen.
Wachhunde Gottes! So hatte man vor einigen hundert Jahren die Dominikaner bezeichnet, weil sie die Kirche verteidigten. Die Zeichen deuten auf Gefahr. Es ist wieder soweit. Die Kirche muß geschützt werden. Möglicherweise steht uns der letzte und entscheidende Kampf bevor. Lautlos fiel die Tür hinter ihm zu.
Goshen, Kalifornien
»Ich hoffe, daß es klappt«, sagte Garibaldi und tippte auf der Tastatur des Laptop eine Telefonnummer.
Catherine saß am Tisch und entfaltete behutsam den zweiten Papyrus. Der erste war von Anfang bis Ende übersetzt und lag in der Pappschachtel, in der ihre neuen Jeans und die Bluse verpackt gewesen waren. Sie
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