Die Prophetin
Familie und Freunde…Ich habe keine Familie, nicht einmal entfernte Verwandte. Und Freunde?
Julius war ein Freund und Danno, aber ihn hatte sie verloren. Gibt es wirklich so wenige Menschen, die mir nahestehen? Garibaldi hatte gesagt, er habe keine Familie. Gab es für ihn Freunde? Hatte ein Priester überhaupt Freunde, wirkliche Freunde?
»Sie waren in Israel«, sagte sie leise und spürte immer deutlicher seine Nähe, seine Hände. Es war ihr noch nie aufgefallen, daß Haareschneiden etwas so Intimes sein konnte. »Warum sind Sie vor Weihnachten abgereist?«
Er lachte. »Waren Sie einmal während der Weihnachtszeit in Jerusalem? Selbst eine Ratte bekäme dort Platzangst. Und dieses Jahr war alles noch schlimmer. Es gab im Hotel kein einziges freies Zimmer mehr.
Ich habe fünf Stunden gebraucht, um auch nur die halbe Länge der Via Dolorosa zurückzulegen.«
»Dann sind Sie also in die Weite des Sinai geflohen?« Er schwieg und hörte auf zu schneiden. Sie spürte seinen Atem im Nacken.
»Ja«, erwiderte er nachdenklich und schnitt weiter. »Die Weite der Wüste… Was haben Sie eigentlich im Sinai gesucht? Der Besitzer des Hotels Isis sagte etwas vom Zug der Israeliten durch die Wüste.«
»Ich suche Mirjam.« Er nickte. »Die Prophetin.«
Sie fragte überrascht: »Sie kennen die Geschichte?«
»Nun ja, ich bin Priester. Ich kenne die Worte der Bibel: ›Hat etwa der Herr nur durch Moses gesprochen?
Hat er nicht auch durch uns gesprochen?‹«
»Richtig, Das Buch Numeri, Kapitel zwölf. Ich glaube, Mirjam war zusammen mit Moses eine Anführerin der Israeliten, aber meine Theorie ist bei den Bibelforschern nicht sehr beliebt.«
»Natürlich nicht. Wie sollten wir die Frauen davon überzeugen, sich mit ihrer Rolle abzufinden, wenn wir zugeben würden, daß sie in biblischen Zeiten gleichberechtigt waren?« Das Gefühl der Intimität wurde noch stärker. Sie spürte seine Berührung nicht nur am Kopf und im Nacken. Seine Nähe schien von ihr Besitz zu ergreifen. Sie wußte, daß auch er solche Empfindungen hatte. Er bemühte sich auffällig darum, nur ihre Haare zu berühren, und zuckte bei jedem zufälligen Kontakt mit ihrer Haut zusammen.
Ein Blick in den Papierkorb ließ sie schaudern. Er schnitt wirklich sehr viel Haar ab, aber sie konnte ihm keinen Vorwurf machen, denn darum hatte sie ihn gebeten. Schließlich wollte sie dem Zeitungsporträt so wenig ähnlich sehen wie möglich. »Ist es so in Ordnung?« fragte er schließlich und trat einen Schritt zu-rück.
Catherine betastete die Haare. Sie waren sehr kurz. Der Nacken lag völlig frei, und das rief bei ihr ein seltsames Gefühl von Nacktheit hervor. Sie trug die Haare immer lang. Der neue Haarschnitt schien sie beunruhigend verwundbar zu machen.
»Wie wäre es mit einem Pony?« fragte sie schließlich. Er hob die Augenbrauen. »Ein Pony? Sind Sie sicher?« Der Einfall überraschte sie selbst, denn die Idee war ihr spontan gekommen. »Ja, bitte.«
Als Garibaldi vor ihr stand, die Haare nach vorne kämmte und eine Hand über ihre Augen hielt, holte Catherine tief Luft. Seine Knie berührten ihre Beine. Der Gürtel seiner Jeans war direkt vor ihrem Gesicht.
Plötzlich wußte sie, weshalb sie ihn aufgefordert hatte, ihr einen Pony zu schneiden.
Er tat es schnell und mit sichtlichem Unbehagen. Sie schloß die Augen und überließ sich dem Gefühl seiner Hand über den Lidern.
Er hielt inne, kämmte die Haare noch einmal nach vorne und löste eine Strähne hinter dem linken Ohr. Es war wie eine flüchtige Liebkosung, und Catherine spürte, daß sie vor Verlegenheit rot wurde.
»Fertig!« verkündete er schließlich, und es klang erleichtert. Catherine trat vor den Spiegel, um sein Werk zu begutachten. »So, jetzt kommt der nächste Schritt.« Sie wollte aus der Tragetasche die Tönung holen, aber Garibaldi kam ihr zuvor und reichte ihr die Packung >Ultra Weißblonde »Hier steht, man soll acht-undvierzig Stunden vor dem Färben einen Allergietest machen.«
»Dazu habe ich keine Zeit.«
Er sah sie kopfschüttelnd an. »Wollen Sie das wirklich tun?«
»Ich muß mein Aussehen drastisch verändern. Außerdem gibt mir das endlich einmal die Möglichkeit herauszufinden, ob Blondinen wirklich mehr Spaß im Leben haben. Aber keine Angst, zum Haarefärben brauche ich Ihre Hilfe nicht.« Er nickte und ging zur Tür. »Dann gehe ich inzwischen eine Abendzeitung kaufen.«
Catherine verschwand im Bad. Im Spiegel sah sie verblüfft, daß ihre Wangen
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