Die Prophetin
Sonntagmorgen war Julius allein im Institut – abgesehen von einer Technischen Assistentin, einer Adventistin, die wie Julius den Sabbat am Vortag gefeiert hatte. Trotzdem fiel es ihm ungewöhnlich schwer, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Zwei Tage waren vergangen, seit Catherine ihn verlassen hatte. Außer der eigenartigen Nachricht von ›Mrs. Meritites‹ auf dem Anrufbeantworter hatte er nichts von ihr gehört. Er machte sich Sorgen.
»Die Zeitung liegt in Ihrem Büro, Dr. Voss«, sagte die Assistentin und lächelte ihn an. Als er freundlich nickte, fügte sie hinzu: »Ich habe Ihnen auch Kaffee und ein Hörnchen gebracht. Ich bin den Rest des Tages nicht mehr da. Ich muß Weihnachtseinkäufe machen!«
»Danke, Tracy«, erwiderte er. Tracy war zwanzig, und Julius hatte den Eindruck, daß sie ihn anhimmelte.
»Bitte sagen Sie den Leuten vom Wachdienst, daß ich noch hier bin«, rief er ihr nach. »In der letzten Woche haben sie mich eingeschlossen!« Als Tracys Schritte in dem langen Gang verhallten, unterbrach Julius die Arbeit an der Mumie. Er streifte die Gummihandschuhe ab und ging in sein Büro. Durch die offenen Fenster drang frische salzige Meeresluft herein. Graue Dunstschleier tanzten über den Wellen. Es würde Nebel geben. Er schloß das Fenster und sah dabei sein Spiegelbild im Glas. Unverständlicherweise schien die junge Technische Assistentin seine schwarzen Haare und den Bart attraktiv zu finden. Auch Catherine hatte ihm einmal gesagt, ein Wissenschaftler mit dichten lockigen Haaren sei irgendwie sexy.
Aber offenbar reichte das Catherine nicht, um ihn zu heiraten. Er seufzte und drehte dem Fenster den Rü-
cken zu. Vielleicht sollte er noch einmal versuchen, Daniel anzurufen, um zu hören, ob er etwas von Catherine wußte. Oder sollte er sich bei der Stiftung nach ihr erkundigen, die ihre Ausgrabung finanzierte…? Der Becher mit Kaffee fiel ihm plötzlich aus der Hand, und das Hörnchen rollte über den Fußboden.
›JESUS-FRAGMENT GEFUNDEN!‹
Unter der Schlagzeile befand sich das Photo eines Papyrus mit einem griechischen Text. Daneben… Julius glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können.
›Kennen Sie diese Frau?‹ stand unter Catherines Porträt. Er überflog schnell den Artikel. Daniel Stevenson war ermordet worden, eine Zeugin hatte gesehen, wie eine Frau aus der Wohnung des Archäologen rannte.
Julius sank auf den Stuhl, denn er bekam plötzlich weiche Knie. Fassungslos las er den Artikel noch einmal Wort für Wort und hörte dabei nicht, daß sein Telefon klingelte.
Nach Aussagen von Zeugen gelang es der Frau, mit einem Mann in einem Auto zu fliehen.
Was für ein Mann war das? Hatte er Daniel ermordet? Hatte er Catherine entführt? War ihr Leben in Gefahr? War sie womöglich bereits tot?
Mein Gott, Cathy, warum habe ich das alles nicht verhindert? Das Telefon hörte auf zu klingeln. Kurz darauf klingelte es wieder. Julius blickte wie gebannt auf den Apparat. Catherine!
Aber der Anrufer wollte nur die Anfangszeiten der Kinos wissen. Eine falsche Verbindung. Die Telefonnummer des Instituts unterschied sich nur in der letzten Zahl vom Kinocenter in der Pico Street.
Julius legte auf und starrte auf das Porträt. Der Polizeizeichner hatte nichts von ihrem Wesen wiedergege-ben, dem scharfen Intellekt und den funkelnden grünen Augen. Aber so sah sie aus. Das Bild zeigte eindeutig sie.
Cathy, warum bin ich nicht bei dir geblieben? Warum war ich nur so überheblich und anmaßend?
Der Mord war in Santa Barbara geschehen, stand in dem Artikel. Aber das war vor zwei Tagen. Inzwischen konnte Catherine überall sein.
Sie ist mit einem unbekannten Mann davongefahren… Julius sprang auf. Er hatte keine andere Wahl, er mußte auf der Stelle zur Polizei gehen. Er mußte den Beamten erklären, wer diese Frau war, und ihnen über die Hintergründe alles sagen, was er wußte. Er mußte der Polizei helfen, Catherine zu finden. Fünf Minuten später fuhr er vom Parkplatz, ohne den weißen Wagen zu bemerken, der am Straßenrand stand und ihm folgte.
Der Vatikan, Rom
Die Wachhunde Gottes… ja, das stimmt. So nennt man uns. Ein Wortspiel mit dem Namen unseres Ordens – Dominikaner. So heißen wir nach dem Ordensgründer, dem heiligen Dominic. Wenn man will, kann man den Namen als Domini Cane lesen, und das heißt: die Wachhunde Gottes. Aber warum haßt man uns so?
Pierre Lefevre führte stumme Selbstgespräche, während er vor dem Arbeitszimmer des Papstes im apostolischen
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