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Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Die Prophezeiung der Schwestern - 1

Titel: Die Prophezeiung der Schwestern - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michelle Zink
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und versucht, die kaum merkliche Distanz zwischen uns zu vergessen. Es ist eine Entfremdung, die allein aus meinen Geheimnissen und meiner Unsicherheit erwächst, aber diese Tatsache macht es nicht leichter, den Abgrund zu überwinden.
    Ich seufze. »Es ist nichts. Ich bin nur traurig, dass Vater heute nicht bei uns sein kann. Auch Weihnachten wird anders sein als sonst.« In meiner Stimme liegt Wahrheit, und einen Moment lang bin ich beinahe selbst davon überzeugt, dass nur die Trauer zwischen mir und James steht.
    »Das ist alles? Das ist das Einzige, worüber du in den letzten Wochen gebrütet hast, was dich so still werden ließ? Irgendwie kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass da noch mehr ist.«
    Sag es ihm. Sag es ihm, bevor es zu spät ist, bevor du ihn ganz von dir gestoßen hast. Aber die Stimme ist nicht beharrlich genug. Ich nicke und lächle ihn mit so viel Überzeugungskraft an, wie ich aufbringen kann. »Es tut mir leid, wenn du dir Sorgen um mich gemacht hast. Mit der Zeit wird sich alles wieder einrenken.«
    Ich will glauben, dass ich ihn beschütze, aber stattdessen
ist Scham der Grund, warum ich schweige. Tief im Inneren kann ich nicht verhehlen, dass ich Angst habe, James würde mich nicht mehr haben wollen, wenn er erfährt, in welche bösartige, uralte Geschichte ich verwickelt bin.
     
    »Miss Gray wäre äußerst ungehalten.« Alices Stimme empfängt mich, als ich die Tür hinter mir schließe, aber es ist nicht die neue, harte Alice, der ich in jüngster Zeit mit so viel Misstrauen begegne. Heute ist ihre Stimme verspielt. Ihr Körper ist nur als verschwommener Schemen auf der Treppe zu erkennen. Sie setzt sich auf die Stufen und stützt sich mit den Ellbogen nach hinten ab.
    Ich gehe zur Treppe und lasse mich neben ihr nieder. »Tja, nun, ich möchte meinen, dass sie auch gegen deine augenblickliche Haltung einiges einzuwenden hätte.«
    Ihre Zähne blitzen in der Dunkelheit auf und unsere lächelnden Augen treffen sich in der Stille des dunklen Hauses. »Wirst du ihn heiraten?«
    »Ich weiß nicht. Früher dachte ich, dass ich es tun würde. Ich war mir dessen so sicher wie nichts sonst auf der Welt.«
    »Und jetzt?«
    Ich zucke mit den Schultern. »Jetzt sind die Dinge komplizierter geworden.«
    Sie lässt sich mit ihren nächsten Worten Zeit. »Ja, du hast vermutlich recht. Aber vielleicht gibt es einen Weg. Eine Möglichkeit, wie wir beide das erlangen können, was wir uns am meisten wünschen.«
    Ich nehme das unausgesprochene Versprechen wahr,
das sie umtanzt. Aber ich bin nicht bereit, mein schwer erworbenes Wissen mit ihr zu teilen. Nicht, ehe ich gehört habe, was sie mir sagen will. »Ich bin nicht sicher, dass ich verstehe, was du meinst.«
    Sie senkt ihre Stimme zu einem Flüstern. »Und ich bin sicher, dass du es sehr wohl tust, Lia. Du willst heiraten und Kinder bekommen, willst ein ruhiges und friedliches Leben mit James führen. Dir muss doch klar sein, was für ein unmöglicher Traum das ist, so… so wie die Dinge stehen. Jetzt, da du gegen die Seelen kämpfen musst.«
    Die Offenheit ihrer Worte überrascht mich. Auf einmal hat sich der Schleier gesenkt. Sie weiß genauso viel wie ich, vielleicht sogar noch mehr. Daran gibt es keinen Zweifel mehr, und ich tadle mich für meine bloße Annahme, sie könnte sich der Prophezeiung und ihrer Macht nicht bewusst sein.
    Als ich nicht widerspreche, fährt Alice fort: »Wenn du deine Pflicht Samael gegenüber erfüllst, wirst du Frieden finden. Er wird dich das Leben führen lassen, nach dem du dich sehnst. Wäre das nicht für alle Beteiligten die beste Lösung? Wünscht sich nicht ein Teil von dir - der Teil, der dazu geboren wurde, das Tor zu sein -, dass es so kommt?«
    Ich würde gerne behaupten, dass ihre Worte bei mir keine Wirkung zeigen, dass ich mich von diesem düsteren Versprechen unbeeindruckt zeige. Aber es wäre eine Lüge, denn ein Teil von mir bebt tatsächlich vor Erregung, als sie von der uralten Weissagung spricht. Ich will glauben, dass
mein Herz nur deshalb so schnell schlägt, weil sich mir die Möglichkeit eröffnet, ein Leben mit James zu verbringen, wie es sich jedes Mädchen wünschen würde, aber irgendwo in den Tiefen meines Bewusstseins weiß ich, dass es nicht nur darum geht. Es ist der Gesang der Sirenen, meine vorbestimmte Rolle in der Prophezeiung. Es ist der dunkelste Abgrund in mir, der Teil, dessen Existenz ich am liebsten leugnen würde, der Teil, der die Verlockung niederkämpfen

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