Die Prophezeiung der Schwestern - 1
erwarten, schwer auf meinen Schultern liegen. »Und was dann? Selbst wenn wir die Liste ausfindig machen, müssen wir immer noch die anderen beiden Schlüssel
finden. Und wenn uns das gelingt, wissen wir trotzdem nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen oder wie wir die Prophezeiung beenden können.«
Sie presst die Lippen zusammen, ehe sie mir antwortet. »Ich weiß auch nicht. Vielleicht können wir Tante Abigail ausfindig machen. Und dann … nun, dann gibt es auch noch die Schwesternschaft…«
Diese Bemerkung lässt mich aufhorchen. Es ist dasselbe Wort, das auch Madame Berrier erwähnt hat. »Die Schwesternschaft?«
Sie seufzt. »Ich will es einmal so sagen: Es gibt Menschen auf dieser Welt, die über die Prophezeiung Bescheid wissen. Jene mit Gaben, die uns nützlich sein können. Einige davon sind Schwestern früherer Generationen, und andere… nun, andere haben lediglich den Wunsch, ihre Gaben zum Nutzen aller einzusetzen. Aber darüber werden wir ein andermal reden, Lia. Einverstanden? Zuerst müssen wir die Liste haben. Die Schlüssel. Du musst mir vertrauen - wenn du zur rechten Zeit nach Hilfe suchst, dann wirst du sie auch finden.«
Vermutlich bin ich ein Feigling, denn ich bin froh, dass ich mich im Augenblick nicht auch noch mit dieser neuen Enthüllung beschäftigen muss. »Ich vertraue dir, Tante Virginia. Aber …«
»Was denn?«
»Was ist mit meinen nächtlichen Reisen? Wie kann ich es vermeiden, ungeschützt auf den Schwingen zu reisen, während ich schlafe?«
Ihre Miene verdüstert sich. »Ich weiß es nicht, Lia. Ich wünschte, ich könnte dir eine Antwort geben - einen sicheren Weg, auf den Schwingen zu reisen. Aber da die Seelen alles daransetzen, dich auf die Schwingen zu locken, kann ich nicht mehr tun, als dir zu raten, nach besten Kräften der Versuchung zu widerstehen.«
Ich nicke und sie verlässt das Zimmer, lässt mich allein mit dem Brief meiner Mutter. Meine Hände zittern, als ich das Wachssiegel auf dem Umschlag aufbreche. Ich falte das Papier auseinander und erblicke die hoch aufstrebende, kurvenreiche Schrift meiner Mutter. Mir ist klar, dass ich möglicherweise die lang ersehnte Antwort auf die Frage nach ihrem Tod - und ihrem Leben - in den Händen halte.
25
M eine liebe Lia, ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Der Anfang dieser Geschichte reicht Jahrhunderte zurück, aber vermutlich sollte ich dir erzählen, wo sie für mich begann.
Nach dem Tod meiner Mutter fand ich das Medaillon in ihrer Kommode. Es rief nach mir, noch ehe ich von seiner Existenz wusste. Es mag seltsam klingen, aber vielleicht bist du schon mit der Versuchung vertraut, die von ihm ausgeht, und mit der Art, wie es sich in deine Gedanken bohrt, in deine Träume, in jeden Atemzug.
Zuerst trug ich es nur gelegentlich, wie ein beliebiges Schmuckstück. Erst als ich eines Tages erwachte und das unheilvolle Symbol in mein Handgelenk eingebrannt vorfand, veränderte sich alles. Ich spürte, wie mich die Macht des Medaillons durchdrang.
Es sprach zu mir, meine Tochter, rief nach mir. Es flüsterte meinen Namen, selbst wenn ich es unter meine Matratze stopfte oder wenn ich weit weg war, in der Schule oder bei einem Besuch bei Freunden.
Natürlich legte ich es an. Immer öfter. Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich trug es direkt über dem Zeichen auf meinem Handgelenk. Die Seelen lockten mich im Schlaf, riefen mich in die Anderswelten. Zunächst widerstand ich, aber nicht sehr lange. Ich wusste noch nichts über die Prophezeiung oder den Preis für meine fortwährende Gegenwehr. Ich wusste nur, dass ich mich frei fühlte, lebendig, wenn ich auf den Schwingen reiste. Dann war ich ich selbst.
Während ich mehr über meine Gaben erfuhr - wie man nach Belieben auf den Schwingen reisen konnte, wie man mit den Toten sprach, wie man Zauber webte -, ging mein Leben weiter. Ich lernte deinen Vater kennen und dachte, wenn es je einen Mann gab, der mich trotz der Last der Prophezeiung lieben konnte, dann war es Thomas Milthorpe. Und trotzdem erzählte ich ihm nichts davon. Was hätte ich auch sagen sollen? Er bewunderte mich über alle Maßen, und als die Zeit verging, wuchs das Geheimnis, das zwischen uns stand, ins Unermessliche, bis es nicht mehr die Wahrheit war, die ich ihm erzählen konnte, sondern die Lüge, die ich so lange vor ihm verborgen hatte.
Kurz vor deiner und der Geburt deiner Schwester wurden die Lockrufe der Seelen beharrlicher. Während du und deine
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