Die Prophezeiung der Seraphim
weit.«
»Geh nicht!« Fédéric stand auf einmal in der Tür der Hütte. »Du musst das nicht tun.«
»Mathilde wird auf mich achten.«
»Bitte bleib, ich hab ein ungutes Gefühl bei dieser Sache. Wir finden einen anderen Kristall.«
»Das werden wir nicht«, sagte Julie sanft. »Und ich möchte Mathilde helfen, so wie sie uns geholfen hat.«
Fédéric verschränkte die Arme. »Verdammter Sturschädel, dann geh doch!« Er verschwand in dem Häuschen und knallte die Tür hinter sich zu. Julie zuckte entschuldigend die Achseln und sagte zu Mathilde: »Er beruhigt sich schon wieder. Gehen wir.«
Ein schmaler Trampelpfad führte vom Tor in das grüne Labyrinth und verlor sich dann. Dieser Wald war nicht gepflegt und licht wie die Jagdwälder des Königs, sondern seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden, gewachsen, wie die Natur es wollte. Das Dickicht erschien Julie undurchdringlich, doch die Einsiedlerin wusste genau, wohin sie ihre Schritte lenken musste: Ohne Zögern führte sie Julie durch das dichte Unterholz, und die beeilte sich, um nicht zurückzubleiben.
»Sind wir bald da?«, fragte sie Mathildes Rücken, doch die wandte nur kurz den Kopf und legte den Finger an die Lippen.
Nach einiger Zeit fiel Julie auf, dass die Vögel verstummt waren. Es wurde düsterer, nur noch wenig Sonnenlicht drang durch die Baumkronen bis zur Erde. Sie musste aufpassen, nicht über die mächtigen Wurzeln zu stolpern, die am Boden entlangkrochen. Moosbedeckte Stämme lagen zwischen den Bäumen, es roch nach faulem Holz. Aus dem Inneren des Waldes strich ein kalter Hauch, der Julie frösteln machte. Mathildes hagere Gestalt vor ihr wirkte auf einmal unheimlich, wie ein wandelnder Schatten. Als hätte sie Julies Gedanken wahrgenommen, drehte die Frau sich um – und da war sie wieder Mathilde mit den gütigen Augen. Julie atmete aus und beruhigte sich. Hier wollte ihr niemand Böses.
Wenig später ging es nicht mehr weiter. Ein Gewirr aus Pflanzen, abgestorbenen Bäumen und Ranken umgab sie von drei Sei ten. Doch Mathilde trat zielstrebig auf einen Busch zu, schob einen Zweig beiseite und ließ Julie durch die so entstandene Lücke schlüpfen. Dann folgte sie ihr.
Julie sah sich staunend um: sie befanden sich in einer weiten Kuppel aus miteinander verflochtenen Zweigen. Durch winzige Öffnungen in diesem Geflecht stießen Lanzen aus Sonnenlicht, die sich innerhalb der Kuppel kreuzten und helle Kreise auf die Oberfläche des kleinen Sees warfen, der nur einen schmalen Uferstreifen am Rand der Kuppel frei ließ. Es war still, aber nicht wie einer Kirche, sondern auf eine lebendige, warme Weise.
»Wie wunderschön«, flüsterte Julie und trat ans Ufer. Das Wasser schien das Licht aufzusaugen und selbst zu leuchten, die Oberfläche des Teichs war glatt wie Glas. Sie beugte sich vor und sah hinein, doch es gab kein Spiegelbild. Als sie die Hand eintauchen wollte, war auf einmal Mathilde neben ihr und hielt ihren Arm fest.
»Wenn du die Oberfläche unvorbereitet berührst, vergisst du dich selbst.«
Ein Schauer überlief Julie. »Was ist das für ein Teich?«
»Er besteht nicht aus Wasser, sondern aus Lethe.« Die Einsiedlerin kramte in ihrem Korb und zog einige Kräuterbündel heraus.
»Lethe? Der Strom des Vergessens?« Julie fühlte sich von dem Teich angezogen, und um der Versuchung zu widerstehen, hineinzufassen, entfernte sie sich vom Ufer.
»Er liegt zwischen unserer und der jenseitigen Welt, die ihr das Ursprüngliche Reich nennt. Sterblichen ist es unmöglich, daraus zurückzukehren.« Mathilde kniete sich neben einem flachen Stein ins Gras. Mit zwei Brocken Katzengold schlug sie Feuer und hielt den Zunder an eines der Kräuterbüschel. Ein Rauchfaden stieg auf, der nach Lavendel und Majoran duftete.
»Auch für Unsterbliche ist es gefährlich, sich in die Zwischenwelt zu begeben, aber ich werde tun, was ich kann, um dich heil zurückzubringen.« Mathilde schritt um den See herum und schrieb mit dem Kräuterbündel Figuren in die Luft. Als sie wieder bei Julie ankam, legte sie es auf den flachen Stein, dessen Oberfläche Aschespuren trug.
»Du musst dich entkleiden«, sagte sie, ohne den Blick von den brennenden Kräutern zu wenden. Sie warf verschiedene Samen in die Glut, während sich ihre Lippen lautlos bewegten. Der Rauch stieg in Julies Nase, unwillkürlich sog sie den würzigen Geruch ein, der sie an die Wintertage erinnerte, an denen Gabrielle Lebkuchen gebacken hatte, und eine angenehme Leichtigkeit
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