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Die Prophezeiung der Steine

Die Prophezeiung der Steine

Titel: Die Prophezeiung der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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wieder aufwachen, wenn sie ihn in der alten Sprache aufforderten: »Rache! Schließ dich uns an, und räche auch du dich! Hol dir zurück, was dir gehört hat!« An etwas anderes konnte er sich nicht erinnern, bloß an die Stimmen, mit denen die Toten zu ihm sprachen, nur zu ihm, und an das kalte, trockene Gefühl, als sei Geist für Geist durch ihn hindurchgeglitten.
    Dann fiel er in einen tieferen Schlaf und war in einem Traum gefangen, der noch unendlich viel schlimmer war, da die Geister in ihm seine Eltern waren. Sie sahen so aus wie beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte, aber bleich,
totenbleich, und sie kamen zu ihm in sein Zimmer in Doronits Haus, das einzige richtige Zuhause, in dem er je gewohnt hatte. Sie legten ihm ihre schweren, aber toten Hände auf die Brust und flüsterten: »Schließ dich uns an«. Und obwohl er in dem Traum wusste, dass sie tot waren, streckte er die Hand nach ihnen aus wie ein kleines Kind, legte den Kopf auf die kalte Brust seiner Mutter und fing an zu schluchzen.
    Mit vor Tränen nassen Wangen wachte er auf und starrte eine ganze Weile zu Boden, bevor er sich umdrehte, um sich Martine zuzuwenden. Ihm war klar, dass sie ihn hatte weinen hören. Sie saß mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt und warf die Steine auf ihr Tuch.
    »Ich habe geträumt, meine Eltern wären tot«, sagte er. »Vielleicht sind sie das ja auch. Vielleicht sind die Geister überall gleichzeitig auferstanden. Machst du eine Deutung für mich?«
    Sie nickte und hielt ihm die Hand entgegen. Er spuckte sich in die Handfläche und gab ihr die Hand. »Sind meine Eltern tot?«, fragte er. Dann wartete er ab, während sie die Steine warf.
    Bis auf einen landeten alle mit der Stirnseite nach oben.
    »Leben«, sagte Martine sofort, mit dem Finger auf einen Stein deutend. »Sie leben. Arbeit, oder eine Aufgabe, die erledigt werden muss. Wandern. Musik. Also alles wie immer, oder nicht? Und der verborgene Stein …« Sie drehte ihn um. »Verantwortung. Verborgene Verantwortung. Das könntest du sein. Es tut mir leid, Ash, dies ist zwar eine richtige Deutung, aber die Steine sprechen nicht zu mir. Vielleicht mache ich mir um deinetwillen zu viele Sorgen, was die Antwort angeht. Die Steine mögen es nicht, wenn der Deuter zu sehr beteiligt ist.«
    Er lächelte. Das erste Symbol hatte ihn so erleichtert, dass
er die anderen kaum noch wahrgenommen hatte. »Spielt keine Rolle - sie leben. Wir sollten aufbrechen.«
    Sie setzten ihren Weg durch das nach Thymian duftende Gestrüpp und von Ziegen abgefressene Heidekraut fort. Gegen Mittag bogen sie von der Hauptstraße ab und wandten sich nach Nordosten. Mit schmerzenden Beinen erklommen sie einen hohen Grat, der von den Gipfeln, die nun mehr und mehr den Horizont bedeckten, noch etwas entfernt war. Die Gipfel wirkten näher, als sie es waren, höher, als es möglich schien, und während Ash und Martine kletterten, kamen sie nur langsam, ganz langsam, immer höher.
    Sie benötigten zwei volle Tage für den Anstieg bis auf die Spitze des Grats. Unter ihnen lag ein Tal, wie es Ash trotz der langen Jahre seiner Wanderschaft noch nie gesehen hatte. Das Hidden Valley lag in einer tiefen, breiten Spalte, durch steile Kämme auf beiden Seiten vor der Kälte der Berge geschützt.
    Auf dem frostigen Grat blieben sie stehen. Ashs Erstaunen brachte Martine zum Lächeln; weit unter sich sahen sie Rotwild auf noch grünen Lichtungen äsen, Eichhörnchen, die von Ast zu Ast hüpften, und sogar, weiter entfernt, einen Elch, der den Kopf mit seinem Geweih neigte, um aus einem Bachlauf zu trinken. Während sich Dunkelheit über das Tal legte, richteten es sich die Vögel, untereinander zankend, auf ihren Schlafplätzen ein. Weiter unten, wo die Berghänge terrassenförmig angelegt waren, trotteten Kühe und Ziegen an ihnen entlang, um gemolken zu werden. Eine Gruppe von Frauen, die aus dieser Entfernung winzig klein wirkten, balancierte Wassergefäße auf ihren Hüften. Sie trugen sie an einem Fluss, der mitten durch das Tal verlief, die Stufen in der Uferböschung hinauf.
    Es war der schönste Ort, den Ash jemals gesehen hatte.
Das nun erlöschende Sonnenlicht, golden und violettfarben, wirkte herzerweichend, weil ihnen der Blick auf das fruchtbare Tal nun langsam entzogen wurde.
    »Lass uns hinuntersteigen, bevor die Nacht hereinbricht«, brachte er lediglich hervor, doch seine Stimme zitterte dabei.
    Während die Sonne unterging, kletterten sie in die Schatten hinab. Auf halbem Weg ins

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