Die Prophezeiung der Steine
wandte sich Martine zu. »Sie macht zu viel, überfordert sich. Vielleicht kannst du sie ja dazu bringen, es ein wenig langsamer angehen zu lassen.«
Martine lächelte. »Wohl kaum. Sie war immer schon ein sturköpfiges kleines Mädchen.«
Drema und Martine musterten einander kurz. Dann nickten sie sich wie zur Bestätigung zu, bevor sie sich wieder abwandten, Drema zum Feuer, auf dem etwas köchelte, Martine,
um ihr Gepäck an der Treppe abzustellen. Ash stellte das seine daneben. Sie lächelten einander an, blickten sich kurz in die Augen und gratulierten sich stumm gegenseitig dazu, es bis hierher geschafft zu haben. Dann traten sie wieder ans Feuer und setzten sich auf eine Wandbank, die mit einer dicken Filzmatte gepolstert war.
Unterwegs mit seinen Eltern, hatte Ash zuweilen von einem solchen Ort geträumt, immer dann, wenn er sich in einem Zelt zusammenkuschelte, während draußen der Wind heulte, oder wenn er sich Blutegel von den Beinen entfernte, nachdem sie durch die Sümpfe vor Pless gezogen waren. Es war gar nichts Ausgefallenes, bloß massive Steinmauern und ein wasserdichtes Dach über dem Kopf, ein warmes Feuer, auf einem Spieß röstendes Fleisch, Brot, das in einem Ofen in der Asche gebacken wurde, Freunde und Familienmitglieder, die zusammengekommen waren, um zu reden, zu lachen und Neuigkeiten auszutauschen. Natürlich war da in seiner Vorstellung auch Musik gewesen; anspruchsvolle, lebhafte Musik von Flöte, Pfeife und Trommel, eine Melodie, die er außer während dieses einen Tagtraums noch nie gehört hatte.
Tja, zumindest in seinem Kopf traf er den richtigen Ton. Er streckte die Beine in Richtung des Feuers aus und hörte zu, wie sich Martine und Elva unterhielten, vor allem über das bald zu erwartende Baby und über Frauenangelegenheiten. Die Musik untermalte ihre Worte, füllte die Gesprächspausen und hob Ashs Stimmung weiter.
Er entnahm der Unterhaltung, dass Elva und Mabry erst ein Jahr lang verheiratet waren und dass Elva vorher in der kleinen Hütte beim Felsaltar gelebt hatte. Mabry war damals Dorfsprecher gewesen und war von den Dorfbewohnern gedrängt worden, sie zum Fortziehen zu bewegen, sie vom Ort der Götter zu vertreiben.
»So sind wir uns begegnet«, sagte Mabry. »Da habe ich mich wohl in sie verliebt.«
»Du warst einfach zu weichherzig, um sie zu vertreiben«, sagte Drema. »Vielleicht hat sie sich ja deshalb in dich verliebt.«
»So muss es wohl sein«, neckte ihn Gytha. »Sonst hat er nichts zu bieten, jetzt, da er nicht mehr Dorfsprecher ist.«
»Jetzt, da Mama tot ist, überlasse ich das jemandem, der es wirklich tun möchte«, sagte Mabry gelassen.
Elva berührte leicht seine Hand. »Deine Mama ist stolz auf dich. Das erzählen sie mir.«
»Sie« waren die Götter, erkannte Ash. Er fragte sich, wie es wohl sein musste, wenn die Götter Tag und Nacht bei jemandem im Kopf ein und aus gingen. Unangenehm, stellte er es sich vor. Doch Elva schien recht glücklich dabei zu sein, und Mabry sah so zufrieden aus, wie Ash noch niemanden sonst erlebt hatte.
Sie aßen an einem großen Tisch in der Ecke. Ash fand es zwar schade, das Feuer verlassen zu müssen, freute sich jedoch über das Essen, geröstetes Zicklein mit gebackenen Bohnen, Soße und Spinat. Sehnsüchtig warf er einen Blick auf das frischgebackene Brot, doch Gytha schaute ihn an und schüttelte den Kopf.
»Wenn du es so frisch isst, kannst du die ganze Nacht vor Magenschmerzen nicht schlafen! Warte bis zum Frühstück.«
Es war, als hätte er plötzlich ältere Geschwister, denn so behandelten ihn die beiden Schwestern von Mabry. Und nachdem er ihn eine Weile beobachtet hatte, tat Mabry es ihnen nach. Ash fühlte sich geborgen, willkommen gehei ßen, dort hereingelassen, wo er bisher immer außen vor geblieben war. Dieses Gefühl überwältigte ihn. Er unterdrückte
seine Tränen und konzentrierte sich auf das zarte, weiche Fleisch der Ziege. Wanderer gingen nicht häufig Freundschaften mit Sesshaften ein; seine Eltern hatten es mit Macht zu verhindern gesucht. Daher war dies nun seine erste Erfahrung mit einer großzügigen Gastfreundschaft. Er war jedoch durch ihre freundliche Aufnahme davon überzeugt, dass mehr als nur Gastfreundschaft vorhanden war. Martine war Elvas Mama, mehr oder weniger jedenfalls, sodass sie hier eine Familie waren.
Erneut dachte Ash an das Blut auf der Sense des Geistes, und seine Entschlossenheit ließ es ihm kalt und heiß werden. Er würde nicht zulassen, dass diese
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