Die Prophezeiung der Steine
unheilverhei ßenden Gestalten dieser Familie etwas antun würden. Niemals. Ganz gleich, was es ihn kosten würde.
»Hallo? Bist du bei uns, Ash?«
Als Gytha mit der Hand vor seinem Gesicht herumwedelte, fuhr er zusammen, sich plötzlich der Gegenwart wieder bewusst werdend. Alle lachten über ihn.
»Du warst ja ganz weit weg«, sagte Mabry.
»Ja, weit weg. Aber ich bin froh, wieder hier zu sein!«
Sie lächelten ihn an, sogar Martine. Allerdings versuchten ihre Augen, zu erforschen, welche Gedanken ihn wohl so sehr abgelenkt hatten. Gytha und Drema räumten den Tisch ab, während die anderen wieder ans Feuer gingen.
»Trag uns ein Gedicht vor, Junge«, sagte Martine.
Als er sah, dass die Frauen sich ihm erwartungsvoll zuwandten und Mabry sich auf seinem Stuhl zurechtsetzte, nickte er.
»Es heißt The Homecoming «, sagte er lächelnd. »Es ist ein Lied von der Küste ganz oben im Norden und handelt von einem Seemann, der von einer Fahrt zurückkehrt, bei der er fast ums Leben gekommen wäre.«
Aus dem schwarzen Auge des Sturms,
Aus dem scharfen Messer des Winds,
Aus den langen, spitzen Fingern der Eisgeister,
Aus dem Druck der Tiefe,
Aus dem Schrecken der Wellen
Hat die Seehundmutter mich erlöst …
Und ich segele nach Hause,
Ich segele nach Hause …
In seinem Inneren hörte er die Musik während der dramatischen Handlung anschwellen. Darunter hörte er, wie der Mast knarrte, vernahm das dumpfe Geräusch, mit dem sich die Wellen am Bug brachen, hörte den Riss, als ein Eisberg kalbte. Dabei war er noch nie so weit oben im Norden gewesen, hatte noch nie den Fuß auf ein Segelboot gesetzt. Die Melodie führte ihm die Welt ihres Schöpfers deutlich vor Augen, so klar, als wäre es eine eigene Erinnerung.
Noch nie zuvor waren diese Lieder zum Leben erwacht, und er fragte sich, warum dies nun geschah. Weil er das Lied ausgesucht hatte, das seiner eigenen Stimmung entsprach, und nicht, um jemand anderem zu gefallen? Er konnte sich nicht erinnern, so etwas schon einmal getan zu haben. Aber er hatte ja auch gerade erst angefangen, gemeinsam mit Martine die Welt der Lieder vorzutragen.
»Oh, das war wunderschön!«, sagte Gytha atemlos. »Es war, als wäre ich wahrhaftig dabei gewesen. Noch eines, mach weiter!«
Also wählte er ein weiteres aus, ein Lied aus dem Süden, eine Ballade über ein Mädchen, das im Wald nach ihrem Bruder suchte. Ash hatte das Gefühl, selbst nach der Wahrheit zu suchen, und auch dieses Lied entsprach seiner Stimmung. Und wie bei dem Lied über das Segeln hörte er beim Vortragen der Worte den Wind in den Kiefern rauschen,
roch den scharfen Geruch eines vorbeihuschenden Fuchses, schmeckte das Salz in den Tränen des Mädchens, während dieses vor Einsamkeit und Verzweiflung weinte. Dann, als es seinen Bruder fand, verspürte er enorme Dankbarkeit und Freude in sich aufsteigen.
Wieder applaudierten die anderen und baten um mehr.
Dieses Mal wählte er Lieder, von denen er glaubte, dass sie ihnen gefallen würden; und nur seine eigene Stimme verlieh den Worten Flügel.
Später, allein unter seinen Decken am Feuer liegend, dachte er noch einmal darüber nach. Martine war im einzigen Gästezimmer, welches nicht mehr darstellte als ein Kämmerchen, das man in dem früher zur Hintertür führenden Gang angelegt hatte. Diese Tür führte jetzt in ein neues Zimmer des Bauernhauses, nämlich in jenes, das Mabry für Elva, das Baby und sich selbst angebaut hatte. »So werden wir nicht die ganze Nacht vom Schlafen abgehalten, wenn das Kleine weint«, hatte Drema mit strenger Stimme gesagt, dabei jedoch Elvas Haar sanft gestreichelt.
Es war das erste Mal, seit sie Turvite verlassen hatten, dass Ash Zeit und Ruhe zum Nachdenken hatte. Eigentlich sollte er das, was geschehen war, noch einmal gründlich überdenken. Doch seine Müdigkeit, der lange Abend, die Geselligkeit und die Wärme ließen ihn in einen warmen, behaglichen Nebel treiben, und er beschloss, diesen nicht zu zerstören. Stattdessen kuschelte er sich mit dem Rücken in Richtung der wohligen Wärme der aufgehäuften Glutasche zusammen, legte den Kopf auf eines von Gythas Filzkissen und schlief die ganze Nacht über traumlos.
Fast die ganze Nacht. Am frühen Morgen, in dem grauen Licht noch vor der Dämmerung, weckten ihn Martine und Elva, und sie zogen los, um die Götter zu besuchen.
Ash war natürlich mit den Göttern vertraut. Jeder Wanderer
besuchte die heiligen Felsen auf seinen Reisen, brachte Opfer dar und betete.
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