Die Prophezeiung der Steine
Dorf brach die Dunkelheit herein, doch es war eine Nacht mit klarem Himmel und hell strahlenden Sternen, sodass sie den Weg auch im schwachen Licht erkennen konnten.
Martine blieb an einem Feld stehen, auf dem neben einem schwarzen Felsen eine kleine Hütte stand. Von dem Feld stieg Bodennebel auf, und Ash spürte jenes Prickeln unter der Haut, das bedeutete, dass dies der Ort der hier heimischen Götter war. Anders als beim Felsaltar in Turvite rief ihn hier jedoch niemand beim Namen. Diesen Göttern wurde von denen, die sie verehrten, Genüge getan.
Neben dem Fels saß eine junge Frau. Als die beiden näher kamen, stand sie auf und lief, obwohl sie hochschwanger war, über das Feld auf sie zu.
»Vorsichtig, Liebes!«, schalt Martine sie und lief ihrerseits los, um sie zu begrüßen. »Nicht so schnell!«
»Mama!«, rief das Mädchen.
Die beiden fielen sich in die Arme.
Das also war Elva. Ash spürte, wie sich sein Magen vor Enttäuschung verkrampfte. Doch er gewann seine Fassung rasch wieder und musste über sich selbst lachen. So viel zu seinen Fantasien! Elva war wirklich wunderschön, ihre Augen wurden von der Nacht verdunkelt, und das Sternenlicht unterstrich ihre anmutigen Wangenknochen. Und in ihrem Zustand wirkte sie riesig. Martine war nicht überrascht. Sie hätte es erwähnen können, dachte Ash verärgert.
Dann schüttelte er den Kopf über seine absurden Erwartungen und trat vor, um Elva zu begrüßen.
»Das ist Ash«, sagte Martine, ohne den Blick von Elvas Gesicht abzuwenden. Sie hatte eine Hand auf die große Wölbung auf Elvas Bauch gelegt und strich ihr mit der anderen über die Wange.
Ash spürte, dass er seinen Blick von den beiden abwenden musste. Es war verwirrend, zu sehen, dass Martines Gesicht voll unverhüllter Liebe war.
»Willkommen, Ash.« Elvas Stimme war leicht und hoch, ein Sopran, aber ohne viel Umfang, befand er.
»Segen sei mit dir«, erwiderte er.
»Also, dann kommt mal mit. Ich habe Mabry schon gesagt, dass ihr heute Abend hier sein werdet, also haben sie Abendessen gemacht, und die Mädchen sind schon ganz aufgeregt. Sie wollen, dass du für sie die Steine deutest.«
Eine Prophetin ?, fragte sich Ash. Oder war sie eine Steinedeuterin wie Martine, und die Steine hatten es ihr erzählt? Vielleicht waren es ja die Götter gewesen - ein Schauer lief ihm über den Rücken, und er wusste, dass es so gewesen sein musste. Die beiden folgten ihr über das Feld und einen steilen Pfad hinab, der zu einem auf einer stufenförmig geformten Felsnase thronenden Gehöft führte. Lichtstreifen drangen aus den Ritzen zwischen den Fensterläden, Rauch kräuselte sich aus dem Schornstein in die reglose Luft empor, Hundekläffen verstummte, als Elva den Tieren befahl, still zu sein, und als sie am Taubenschlag vorbeigingen, war das leise Geräusch raschelnder Flügel zu vernehmen. Es war ein Ort des Friedens und des Überflusses, so wie das Tal schon vom Grat aus gewirkt hatte. Mit Schaudern dachte Ash an das Blut auf der Sense des Geistes.
Während sie über den Hof gingen, wurde ihnen die Tür geöffnet. Ein hochgewachsener Mann erschien, so groß
wie Ash und noch kräftiger als dieser. Sein lockiges dunkelblondes Haar wurde von dem Licht, das aus dem Haus drang, umkränzt.
»Elva? Es wird auch Zeit, Liebste.« Er legte ihr den Arm um die Hüfte und begleitete sie in den warmen Raum. Dabei nickte er Martine zu. »Kommt rein, und wärmt euch auf. Gytha, decke das Licht ab.«
Gytha war eine große Frau, ein paar Jahre älter als Ash und mit dem gleichen lockigen Haar wie Mabry, das sie sich jedoch zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Sie hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, um kleine, mit Stickereien verzierte Schirme vor die Kerzen zu stellen. Elva lächelte sie an, woraufhin Gytha ihr Lächeln erwiderte. »Drema hat die Schirme für mich gemacht«, sagte Elva zu Martine. Sie wandte sich Ash zu. »Um meine Augen vor dem Licht zu schützen.« Er nickte verständnisvoll. Verblüfft stellte er fest, dass die Schönheit, die er im Sternenlicht so deutlich gesehen hatte, nun überdeckt wurde von der Eigenartigkeit ihrer blassen Haut, ihres weißen Haars und ihrer rosafarbenen Augen.
Drema saß am Feuer und bestickte einen winzigen Filzmantel, der offenkundig für das neue Baby gedacht war. Sie war älter und hatte ein strengeres Gesicht als ihre Schwester Gytha. Sie stand auf und drückte Elva auf den Stuhl.
»Setz du dich hin, wir kommen schon zurecht, setz dich einfach.« Sie
Weitere Kostenlose Bücher