Die Prophezeiungen von Celestine
anderen Menschen zu kontrollieren und zu beherrschen. Doch erst vor kurzem haben wir damit begonnen, dieses Phänomen von innen, vom Standpunkt des individuellen Bewußtseins her zu erforschen. Wir haben uns gefragt, was bei einem Menschen geschieht, wenn er den Wunsch verspürt, einen anderen zu kontrollieren, und stellten folgendes fest: Wenn zwei Individuen in einem Gespräch aufeinandertreffen, also eine ganz alltägliche Situation, dann gibt es zwei mögliche Resultate. Abhängig davon, was sich während der Interaktion ereig net, fühlt sich einer der beiden Gesprächsteilnehmer nach der Unterhaltung stärker und einer schwächer.«
Ich sah ihn verblüfft an, und er schien etwas verlegen, sich gleich so ausführlich zu dem Thema ausgelassen zu haben. Ich bat ihn jedoch, fortzufahren.
»Deshalb neigen Menschen dazu, eine manipula -
tive Grundhaltung einzunehmen. Egal wie die Situation gelagert ist oder worum es geht. Immer sind wir darauf vorbereitet, alle notwendigen Register zu ziehen, um als Sieger aus einer Situation hervorzu-gehen und unter allen Umständen die Oberhand zu behalten, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Gelingt es, unseren Standpunkt durchzusetzen, fühlen wir uns bestärkt, gelingt es nicht, meinen wir, an Kraft zu verlieren.
Mit anderen Worten, wir versuchen nicht nur uns gegenseitig zu kontrollieren und auszutricksen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern auch, weil wir in der Kontrolle über andere einen Energieschub erhalten. Das ist der Grund für die Existenz vieler scheinbar irrationaler Probleme in der Welt - auf individuellem wie nationalem Niveau.
In meinem Berufsfeld drängt dieses Verhalten mehr und mehr ins öffentliche Bewußtsein. Uns wird bewußt, wie sehr wir uns gegenseitig manipulieren, und aus dieser Erkenntnis erfolgt eine - längst überfällige - neue Bewertung unserer Motivationen. Wir suchen nach anderen Möglichkeiten der Interaktion.
Meiner Ansicht nach ist diese Umbewertung Teil der neuen Weltsicht, von der auch im Manuskript die Rede ist.«
Unser Gespräch wurde von Wils Rückkehr unterbrochen. »Es gibt gleich Essen«, sagte er.
Hungrig machten wir uns auf den Weg und begaben uns in das untere Geschoß des Gebäudes, in dem die Familie lebte. Durch das Wohnzimmer be gaben wir uns zur Eßecke. Auf dem Tisch standen
Fleischeintopf, Gemüse und Salat.
»Setzen Sie sich doch, setzen Sie sich doch«, wie -
derholte der Eigentümer auf englisch, zog Stühle hervor und schwirrte dienstbeflissen durch den Raum.
Im Hintergrund standen eine ältere Frau, bei der es sich offenbar um seine Ehefrau handelte, und ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen.
Als wir uns setzten, wischte Wil mit dem Ellbogen aus Versehen seine Gabel vom Tisch. Laut klappernd fiel sie auf den Boden. Der Mann warf seiner Frau einen ärgerlichen Blick zu, und diese blaffte das Mädchen an, weil es nicht sofort nach einer neuen lief. Das Mädchen eilte ins Nebenzimmer und kam mit einer Gabel in der Hand wieder heraus, die sie vorsichtig Wil überreichte. Ihr Rücken war gebeugt, und ihre Hand zitterte ein wenig. Mein Blick fiel quer über den Tisch und blieb an Reneau hangen.
»Guten Appetit«, sagte der Mann und reichte mir eine Schale mit Essen. Während des Essens sprachen Reneau und Wil in beiläufigem Ton über akademische Belange, die Herausforderungen des Lehramtes und Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Publikation. Der Besitzer des Geschäftes hatte den Raum verlassen, seine Frau jedoch verharrte diensteifrig im Türrahmen.
Als sie und ihre Tochter zum Nachtisch Kuchen servierten, stieß das Mädchen mein Glas um, so daß der ganze Tisch vor mir unter Wasser stand. Zornig eilte die ältere Frau herbei, schrie das Mädchen auf spanisch an und schubste sie zur Seite.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie, während sie das Wasser aufwischte. »Dieses Kind ist so furchtbar ungeschickt.«
In diesem Moment explodierte das Mädchen förmlich. Sie warf den restlichen Kuchen nach der Frau, verfehlte jedoch, und so landeten Kuchenreste zusammen mit Porzellanscherben mitten auf unserem Tisch. In diesem Moment betrat der Besitzer wieder den Raum.
Der alte Mann begann zu schreien, und das Mädchen rannte aus dem Zimmer.
»Es tut mir leid«, sagte er und eilte zu unserem Tisch.
»Kein Problem«, erwiderte ich. »Seien Sie ein wenig nachsichtiger mit dem Mädchen.«
Wil hatte sich mit der Rechnung in der Hand bereits erhoben, und eilig verließen wir den Raum. Reneau hatte
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