Die Prophezeiungen von Celestine
dämmerte es mir.
»Sie hatten beide recht«, sagte ich. »Und unrecht.«
Seine Augen strahlten. »Wie das?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich denke, ein erfülltes Leben müßte die beiden Standpunkte in sich vereinen.«
»Ihre Lebensfrage besteht im Wie«, sagte Pater Carl. »Wie lebt man ein Leben, das beides vereint?
Von Ihrer Mutter haben Sie das Bewußtsein darüber, daß Leben Spiritualität ist. Von Ihrem Vater wissen Sie, daß es um Selbstverwirklichung, Spaß und Abenteuer geht.«
»Die Aufgabe meines Lebens besteht also darin«, unterbrach ich ihn, »diese beiden Ansätze irgendwie zu verbinden?«
»Ja, für Sie scheint Spiritualität die vordringliche Frage zu sein. Ihr gesamtes Leben wird sich darum drehen, eine Form zu finden, die es Ihnen erlaubt, sich zu verwirklichen. Dieses eine Problem konnten Ihre Eltern nicht lösen, das haben sie Ihnen als Vermächtnis, als evolutionäre Frage, als wesentliche Aufgabe Ihres Lebens hinterlassen.«
Der Gedanke stürzte mich in tiefstes Grübeln. Pater Carl sagte noch etwas, doch war ich nicht in der Lage, mich darauf zu konzentrieren. Das schwächer
werdende Feuer hatte eine beruhigende Wir kung auf mich, und jetzt erst merkte ich, wie müde ich war.
Pater Carl setzte sich aufrecht und sagte: »Ich denke, Sie haben für heute kaum noch Energie. Doch eines will ich Ihnen noch mit auf den Weg ins Bett geben. Sie können jetzt einschlafen und niemals wie -
der daran denken, was wir eben besprochen haben.
Sie können direkt in Ihr altes Drama zurückkehren, oder Sie können morgen aufwachen und etwas mit diesem neuen Ansatz beginnen. Sollten Sie sich dafür entscheiden, so sind Sie bereit, den nächsten Schritt in diesem Prozeß zu gehen und alles, was Ihnen seit Ihrer Geburt zugestoßen ist, einer genauen Betrachtung zu unterziehen. Betrachten Sie Ihr Leben als eine lange Geschichte, die sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt, und Ihnen wird auffallen, daß Sie die ganze Zeit an ein und derselben Fragestellung gearbeitet haben. Sie werden verstehen, weshalb Sie hierher nach Peru kamen und was Ihr nächster Schritt sein wird.«
Ich nickte und sah ihn mir genauer an. Seine Augen strahlten warm und liebevoll, und sein Ge-sieht trug den gleichen Ausdruck, den ich so oft bei Wil und Sanchez gesehen hatte.
»Gute Nacht«, sagte Pater Carl, ging in sein Schlafzimmer und schloß die Tür. Ich rollte meinen Schlafsack auf dem Boden aus und fiel augenblicklich in tiefen Schlaf.
Als ich erwachte, dachte ich sofort an Wil. Ich mußte Pater Carl fragen, was er noch über Wils Pläne wußte.
Während ich in meinem Schlafsack auf dem Boden lag und nachdachte, trat Pater Carl leise in den Raum und begann damit, Feuerholz aufzulegen.
Ich zog den Reißverschluß auf. Durch das Geräusch wurde er auf mich aufmerksam und sah mich an.
»Guten Morgen«, sagte er. »Wie haben Sie geschla -
fen?«
»Ganz gut«, erwiderte ich, während ich aufstand.
Er legte frische Späne auf die Kohlen und dann größere Holzscheite.
»Hat Wil erwähnt, was er vorhat?« fragte ich.
Pater Carl sah mir direkt ins Gesicht. »Er wollte zum Haus eines Freundes gehen und dort auf das Eintreffen einiger Informationen über die Neunte Erkenntnis warten.«
»Hat er sonst noch etwas gesagt?« fragte ich.
»Wil sagte, daß Kardinal Sebastian selbst die letzte Erkenntnis finden will und auch kurz davorsteht. Wil denkt, daß derjenige, der im Besitz der letzten Erkenntnis ist, entscheidet, ob das Manuskript je mals eine weitere Verbreitung und ein größeres Verständnis erfahren wird.«
»Wieso?«
»Ich bin mir selbst nicht ganz im klaren darüber.
Wil war einer der ersten, die mit dem Sammeln und der Lektüre der Erkenntnisse begonnen haben. Möglicherweise versteht er sie besser als jeder andere. Ich glaube, er ist der Ansicht, daß alle anderen Erkenntnisse durch die letzte klarer und verständlicher werden.« »Glauben Sie, daß er recht hat?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, gab er zurück. »Ich verstehe davon nicht soviel wie er. Ich weiß nur, worin meine Aufgabe besteht.«
»Und das wäre?«
Einen Augenblick schwieg er. »Wie ich schon gesagt habe, besteht meine persönliche Aufgabe darin, Menschen bei der Enthüllung ihrer wahren Identität behilflich zu sein. Das ist mir nach der Lektüre des Manuskriptes klargeworden. Die Sechste Erkenntnis ist sozusagen meine Erkenntnis. Ich helfe anderen, diese Erkenntnis zu verstehen. Und es gelingt mir, weil ich selbst
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