Die Prophezeiungen von Celestine
großer Wichtigkeit sein?«
Sie warf mir einen schnellen Blick zu und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße. »Weil jeder Erwachsene sich lediglich auf ein Kind zur selben Zeit konzentrieren kann. Sind die Kinder in der Überzahl, werden die Erwachsenen schlichtweg von den Kindern überfordert und sind nicht länger in der Lage, die Kinder mit ausreichend Energie zu
versorgen. Die Kinder fangen dann an, sich um die zur Verfügung stehende Zeit der Erwachsenen zu streiten.«
»Rivalität unter Geschwistern«, sagte ich.
»Ja, aber laut Manuskript ist das Problem von größerer Bedeutung, als die Leute gemeinhin annehmen. Erwachsene neigen oft dazu, große Familien und das gemeinsame Aufwachsen ihrer Kinder zu
idealisieren. Doch Kinder sollten sich die Welt von Erwachsenen und nicht von anderen Kindern erklären lassen. In allz u vielen Kulturen haben sich Kinder bereits in Banden organisiert. Das Manuskript behauptet, daß die Menschheit langsam be greifen wird, daß sie keine Kinder mehr in die Welt setzen kann, um die sich nicht mindestens ein Erwachsener verantwortungsvoll kümmert.«
»Augenblick mal«, sagte ich. »Es gibt genügend Familien, in denen beide Eltern arbeiten müssen, um zu überleben. Diese Leute hätten dann kein Recht auf Kinder mehr.«
»Nicht unbedingt«, erwiderte sie. »Das Manuskript spricht davon, daß Menschen mit der Zeit lernen werden, den Begriff Familie zu erweitern. So, daß auch andere Personen in der Lage sein werden, eine verantwortungsvolle Betreuung zu übernehmen. Die Energie muß nicht ausschließlich von den Eltern kommen. Um genau zu sein, ist es ganz gut, wenn sie das nicht immer tut. Wer auch immer für die Kinder verantwortlich ist, muß jedenfalls seine ungeteilte Aufmerksamkeit zur Verfügung stellen.«
»Sieht ganz so aus, als hätten Sie bei ihrer Er-ziehung irgend etwas richtig gemacht. Mareta wirkt außergewöhnlich reif und erwachsen.«
Karla legte die Stirn in Falten und sagte: »Erzählen Sie ihr das und nicht mir.«
»Oh, richtig.« Ich sah das Kind an. »Du benimmst dich sehr erwachsen, Mareta.«
Einen Augenblick blickte das Mädchen schüchtern zur Seite. »Danke«, sagte sie dann. Karla drückte sie herzlich an sich.
Sie sah mich voller Stolz an. »Ich versuche seit zwei Jahren, Mareta dem Manuskript entsprechend zu begegnen, nicht wahr, Mareta?«
Das Kind lächelte und nickte.
»Ich habe versucht, ihr die nötige Energie zukommen zu lassen und ihr in jeder Situation die Wahrheit zu sagen. In einer Sprache, die sie versteht.
Wenn sie Kinderfragen stellt, nehme ich diese sehr ernst und gebe mir Mühe, der Versuchung zu widerstehen, erfundene Erklärungen abzugeben, die nur der Belustigung der Erwachsenen dienen.«
Ich lächelte. »Meinen Sie die Geschichte vom Storch, der die Kinder bringt?«
»Auch, doch sind diese kulturspezifischen Er-klärungen nicht das eigentliche Problem. Da diese Erklärungen sich nie verändern, kommen die Kinder schnell dahinter. Schlimmer sind Zerrbilder, die Erwachsene aus dem Stegreif improvisieren, um ein wenig Spaß auf Kosten der Kinder zu haben und weil sie meinen, die Wahrheit sei für Kinder zu
kompliziert. Das stimmt nicht; es gibt immer eine Möglichkeit, die Wahrheit auf einem für Kinder verständlichen Niveau auszudrücken, man muß ledig lich ein wenig Einfallsreichtum beweisen.«
»Was hat das Manuskript diesbezüglich zu sagen?«
»Wir sollen immer einen Weg finden, einem Kind die Wahrheit zu vermitteln.«
Etwas in mir wehrte sich gegen den Gedanken. Ich selbst hatte meinen Spaß an Spielen mit Kindern.
»Aber Kinder verstehen es doch gewöhnlich, wenn Erwachsene Spaß machen«, sagte ich. »Mir scheint, als berauben wir die Kinder ihrer Freude und Unbe-schwertheit und machen sie so vorschnell zu kleinen Erwachsenen.«
Sie musterte mich mit strengem Blick. »Mareta ist ausgesprochen unbeschwert und voller Lebensfreude.
Wir spielen alle Kinderspiele, die ihre Phantasie zuläßt. Der Unterschied besteht darin, daß sie weiß, wann wir phantasieren und wann nicht.«
Ich nickte. Natürlich hatte sie recht.
»Mareta wirkt reif und erwachsen«, fuhr sie fort,
»weil ich immer da war, wenn sie mich brauchte. War ich nicht da, dann hat sich meine Schwester, die neben uns wohnte, um sie gekümmert. So war immer ein Erwachsener dort, der ihre Fragen be antworten konnte. Und weil ihr echte Aufmerksamkeit zuteil wurde, hatte sie nie das Gefühl, angeben zu müssen oder Dramen zu inszenieren.
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