Die Puppe an der Decke
als Schiffsjungen oder Heizer, Nina als eine der unaussprechlichen Frauen in Rio, Kapstadt oder Rotterdam. Sie sah blaue Lagunen mit kreideweißen Stränden, sah Segler und Totenschiffe, die durch schwere See stampften. Und sie sah das Gesicht des Großvaters, als es aufs Ende zuging, eingefallen und zahnlos, bereit für den wirklich großen Segeltörn.
Als sie gegen neun Uhr abends erwachte, war ihr Kopf um einige Kilo leichter, und sie wusste, dass der Wagen vor der Bäckerei in der Storgate stand.
11
Rebekka hielt ganz unten am Campingplatz, unter den windschiefen Kiefern am Kiosk. Der Kiosk war für den Winter geschlossen, grüne Blenden vor den Fenstern, ein Plastikpapierkorb hing noch an einer Schraube und war zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Es war so still, nur der Wind in den Baumkronen war zu hören und die Wellen weiter unten am Sandstrand. Von einem Baum hing noch ein Seil herab, es tanzte in der Dunkelheit ein wenig hin und her, sie dachte an die Puppe und an die Schaukel, die früher hier gehangen hatte. Hinter dem Kiosk führte der Weg durch den Wald, aber es war so dunkel, so stockdunkel, sie ging über den Weg bis zum Wasser und folgte dann der Strandlinie, dem weißen Sand, der zur Landspitze führte. Zwischen den Bäumen konnte sie die Umrisse von Ferienhäusern ahnen, die dort errichtet worden waren, lange vor Erlass der Gesetze gegen Zersiedlung der Landschaft; niedrige Dächer hinter winterschwarzen Hecken und Büschen, Boote mit umgedrehtem Kiel. Sie versuchte sich Leo in selbst gewählter Einsamkeit vorzustellen, hier draußen in den langen dunklen Wintermonaten, und sie glaubte ihn zu verstehen, man ist niemals ganz einsam, wenn man einen Strand als Nachbarn hat, Seevögel, das Eis, das gegen Sand und Steine presst. Nach einigen Minuten hatten ihre Augen sich besser an die Dunkelheit gewöhnt, über ihr tauchte der Sternenhimmel auf, Großer Wagen, Venus, alle anderen, deren Namen sie nicht kannte.
Sie fand ihn auf einem Baumstamm, dort, wo der Sandstrand dem dunklen Fels begegnete, der Baum war halb in den Boden eingesunken, er hatte die Knie fast bis ans Kinn gezogen, sie sah das orange Glühen der Zigarette, ehe sie ihn von der Dunkelheit um ihn herum unterscheiden konnte.
»Ich hoffe, du hast Hunger«, sagte er. »Ich habe heute Morgen einen Lengfisch von fast vier Kilo erwischt.«
Essen. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, das merkte sie jetzt, es war halb elf, sie hatte ihr Gedärm nicht schreien gehört, bis er den Mund aufgemacht hatte.
»Isst du immer so spät zu Abend?«
Er warf seine Zigarette ins Meer. »Hier draußen esse ich rund um die Uhr zu Abend. Ich habe die ganze Zeit Hunger. Ich suhle mich in Fischen und Krustentieren, ich fresse verdammt nochmal das ganze Meer.«
»Das ist schön. Ich glaube, ich könnte auch allein einen Lengfisch von vier Kilo verzehren. Ich habe zwei Tage im Bett verbracht, ich war total kaputt.«
Er stand auf. »Du hast leicht hergefunden?«
»Da, wo wir als Kinder gespielt haben, finden wir uns doch immer zurecht. Du hättest mir nicht entgegenkommen müssen.«
»Das spielt doch keine Rolle. Ich mache um diese Zeit ohnehin immer eine Runde.«
Sie gingen. An der glatten Felswand reichte er ihr die Hand, sie freute sich trotz allem darüber, dass er ihr entgegengekommen war. Bald darauf erreichten sie zwischen den glattgescheuerten Felsbuckeln den Weg, und er ließ sie los.
Sein Haus lag am Ende der Landspitze, zuerst sah sie das gelbe Quadrat, das durch ein Fenster auf das welke Gras des Vorjahres fiel. Sie war als Kind hier gewesen, sie war als Kind überall hier draußen gewesen, aber sie verband diesen Ort nicht mit Gesichtern, mit Stimmen.
»Warte«, sagte er. »Hör zu!«
Der Wind. Nur der Wind.
»Das ist Gott, der irgendwas auf dem Herzen hat. Ich weiß nicht, was er will, aber etwas ist es jedenfalls.« Er lachte. »Ich bin das halbe Jahr hindurch Atheist, hier draußen aber bin ich tief gläubig. Es ist unmöglich, mitten im Juli in Oslo an Gott zu glauben, aber hier draußen und in diesem Moment ist es fast unvermeidlich. Die Dunkelheit. Das Meer. Ich kann als Christ am besten arbeiten. Sommeroslo macht mich zum Penner, zum blöden Bettler. Ich treibe mich monatelang in den Straßen herum und rühre keinen Finger. Wenn ich zu malen versuche, kommt bloß Unsinn dabei heraus.«
»Das macht doch nichts, so lange du es dir leisten kannst, das halbe Jahr als Penner zu verbringen.«
»Alle können sich das
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