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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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Licht, Farben, die Geräusche von Wellen, Vögeln und Insekten. Ich stand in der Haustür und wusste, dass ich nicht hier stehen dürfte, kurzes Sommerkleid, barfuß, ich kenne ihn nicht, er kann mit mir machen, was er will, wenn Vater davon erfährt, wird er zuschlagen.
    Aber ich blieb stehen. Ich blieb stehen und hörte den großen Mann über Bilder erzählen, die ihm gut im Blick lagen, über meine Hüften, die sich in dem harten Rechteck krümmten, in dessen Mitte ich mich befand, ich rauchte nicht, ich saugte an meinen Fingern, zu der Zeit, als noch alle zehn unversehrt waren. Ich durfte den Fisch erst berühren, als er ihn gesäubert hatte. Für einen so großen Mann hatte er schmale, fast feminine Hände. Er saß dort am Tisch, mit dem dampfenden Fisch vor sich in der Schüssel, er zog die graue Haut ab, danach entfernte er mit großer Gründlichkeit jede einzelne Gräte, er war wie ein Chirurg, der mit der Präzision der Erfahrung das weiße Fleisch zerschnitt, bis es in leuchtenden Scheiben vor uns lag, die frisch gekochten Kartoffeln und Möhren dampften; das alles sah ich, als ich in der Tür oder am Fenster stand, vielleicht hatte ich mich gesetzt, ich weiß es nicht, aber ich sah es wie durch einen Dunstschleier. Und die ganze Zeit sprach er über sich und über die Stadt, in der wir beide unsere Kinderschuhe verschlissen hatten, er länger als ich zwar, aber es lag ein »wir« in allem, was er sagte, selbst dann, wenn er über längere Zeiträume nur über sich sprach und über das, was er natürlich für seine Domäne hielt, die Bilder. Die Stadt, sagte er, und die, die dort wohnten, seien ein Spiel mit mehr oder weniger bekannten Spielfiguren, das verstand ich ja besser, als er ahnen konnte, er hatte in der Küche einen Stadtplan aufgehängt; der war identisch mit dem, den ich einige Tage zuvor gekauft hatte, in seinen Mußestunden stand er in der Küche und bewarf den Plan mit Pfeilen, danach suchte er die getroffenen Stellen auf, er hatte Schubladen voller Skizzen, die das Elektrizitätswerk, den Stadtpark, die Hafenanlage und den gewerkschaftseigenen Supermarkt bei Lien zeigten. Und aus Nybyen. (»Ich mag Nybyen nicht, Rebekka, das ist eine künstliche Prothese in einem Körper, der nicht mehr krank ist als alle anderen auch.« ) Dazu sagte ich nichts, ich wollte nichts sagen, aber wieder sah ich den kleinen Jungen vor mir, der im Kinderzimmer schlief, die Eltern im Nebenzimmer, es war ein Uhr nachts. Sie sind so verletzlich, dachte ich. Da liegen sie und schlafen, zusammen, aber dennoch getrennt im Universum der Bewusstlosigkeit, morgen werden sie erwachen und sich für eine Familie halten, aber das ist nur ein Trick, um die Einsamkeit zu ertragen. Er hat so viel gesagt, ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern, denn während wir das weiße Fischfleisch aßen und die Mandelkartoffeln mit zerlassener Butter übergossen, lag ich dicht neben Niels Petter Holand, mit einer Hand auf seiner Leber, in der anderen ruhte das Skalpell, und Leo fragte, worüber ich lachte, ich sagte, ich wisse es nicht, es sei nur ein Einfall, ich sei schon als Kind so gewesen, und das stimmte nicht, es war eine glatte Lüge, ich war ein ernstes Kind, eine alte Seele in einem jungen Leib, ich glaube nicht, dass er mir glaubte, ich glaube nicht, dass meine Lüge ihm etwas ausmachte, wir spielten »wir tun so«, und in der Küche steckten die Pfeile im Stadtplan. Er trank Rotwein aus einem Halbliterglas, ich trank Eiswasser, und sein Blick traf meinen halben kleinen Finger immer dann, wenn ich mein Glas an den Mund hob.
    Der Fisch schmeckte gut. Ich nahm mir dreimal nach und wurde schläfrig und noch abwesender. Es wurde wieder Sommer, und ich stand in der Tür und schaute ins Zimmer, ich musste der Erinnerung an diesen Raum einen Hintergrund geben, ich konnte nicht mit dem detaillierten Wiedererkennen leben, ohne ihn mit etwas verhältnismäßig Rationalem zu verbinden. Ich war auf dem Weg vorbeigekommen. Ich hatte Durst, ich hatte ihn um ein Glas Wasser gebeten. So war das alles.
    Später gingen wir nach draußen. Es war kalt und still, und über uns wölbte sich der Sternenhimmel. Wir gingen bis zum Rand der Felsen und standen da und rauchten beide. Weit hinten im Fjordinneren konnten wir die Lichter der Stadt sehen, und die Stadt war in diesem Moment eine andere Welt, ein fremder Planet.
    Ich dachte, jetzt wird er mich sicher bitten hierzubleiben, aber das tat er nicht, so ist er nicht, und deshalb wäre ich gern

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