Die Puppe an der Decke
Hafen aufzusuchen.
Ach, da ging sie. Nina. Am Fjord entlang, zusammen mit Menschen, deren Namen sie kaum kannte. Einen feinen Kinderkopf hatte sie aus dem grauen Ton geformt, aber sie lief jetzt weiter und erzählte den anderen, dass du ein sensibler Charakter bist, dass du einfach keine Ungewissheit ertragen kannst, wenn du deinen Sohn hütest. Dass du auf die Uhr schaust und keine Ruhe findest, so lange das Telefon nicht geklingelt hat. Das hat nicht nur mich beeindruckt, das darf ich wohl behaupten. Wir haben uns vorgestellt, wie du rastlos im Zimmer hin und her läufst, mit dem Kind auf dem Arm, und deshalb habe ich Nina mein Mobiltelefon gegeben, das war doch selbstverständlich. Hier, habe ich zu Nina gesagt. Hier hast du mein Telefon. Ruf kurz an. Sie suchte Schutz hinter der Würstchenbude und rief dich an. Ulf und ich warteten unten auf dem Weg und sahen, wie du strahltest, als sie sich meldete. Du wirst schon sehen, dass er ein totales Schwein ist, dachte hier jemand, das spürte ich plötzlich ganz deutlich. Du wirst sehen, dass er von der altmodischen Sorte ist, die der eigenen Frau nicht einmal einen Abend in der Stadt gönnt, mit Leuten, die sich bald als gute Freunde entpuppen können. Aber nein. Die Person, die das gedacht hatte, hatte sich geirrt. Du bist ein moderner Mann. Etwas anderes zu behaupten wäre falsch. Was ich jedoch gern wüsste, ist, ob du noch immer das Schlüsselbund mit der Hand umklammerst, tief, tief unten in deiner Hosentasche, wenn du gestresst bist, wenn du auf einen Anruf von Nina wartest, wenn irgendetwas ein wenig wehtut, ein wenig schwierig wird.
Inzwischen sah sie alles mit Stinas Augen. Sie lief durch die kleine Stadt und war Stina. Stina, angetrunken und nur halb anwesend, wenn sie die Einfahrt hochwankte, durch den feinkörnigen Schnee, der gefallen war, nachdem Konrad vor dem Schlafengehen noch Schnee geschippt hatte. Warum war sie nicht zu Harald und den Kindern nach Hause gegangen, das wusste sie nicht, hier war sie und heulte durch die Dunkelheit und sah, wie im Haus ihrer Schwester das Licht anging. Es tat so entsetzlich weh! Sie ließ sich in die Diele führen, zu den vertrauten Familienbildern, die an den Wänden hingen, auf der Kommode standen, Rebekka und die Kinder, Mutter und Vater, Konrad und Harald im Boot, irgendwo auf den Lofoten; sie konnte das alles nicht erfassen, es war zu schwer, überhaupt von irgendetwas zu wissen, das mit Vergangenheit und Geborgenheit zusammenhing. Sie hörte Rebekka plappern und hörte das Wimmern, das lauter wurde, als sie das viele Blut entdeckte, Konrad, der fluchend im Schlafzimmer verschwand, um sich anzuziehen, der nach einem Arzt schrie, und Rebekka, die sagte, warte, mach dich bereit, aber lass uns beide für einige Minuten allein.
Dann die Küche, und was ist passiert, wer hat dir das angetan?
Sie wusste nicht mehr, wo sie den Wagen abgestellt hatte. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, dass sie in die Stadt gefahren war. Es war fast acht Uhr, drei Stunden waren aus ihrem Bewusstsein gestrichen, drei Stunden Stina und lange, lange Nacht, jetzt lösten die Bilder von damals sich auf; sie stand auf dem Marktplatz und fror.
Für einen Moment sah sie das Auto, das draußen vor Niels Petters Büro stand, das kam ihr logisch vor, deshalb ging sie hin.
Aber auch dort war kein Auto zu sehen. Das machte ihr zu schaffen. Sie war schon früher ausgefallen, aber sie dachte, drei Stunden seien eine lange Zeit; eine viel zu lange Zeit, gefährlich.
Es fing an zu regnen. Sie trieb sich im Hafen herum und suchte nach diesen drei Stunden, sie fand sie nicht, sie wurde klatschnass, am Ende fuhr sie mit dem Taxi nach Hause.
Als sie unter der Decke lag und die Erkältung immer dichter an sie herankroch, dachte sie wieder an Leo. Daran, dass sie am Vorabend eine Art Bündnis mit ihm eingegangen war. Er wusste das selber nicht, deshalb musste sie es sich ganz besonders klar vor Augen halten.
Am nächsten Tag lag sie im Halbschlaf im Bett. Sie hörte die Großmutter in der Küche mit Töpfen und Besteck klappern, und sie hörte Stinas eilige Füße auf der Treppe. Sie ahnte die Anwesenheit ihres Großvaters im Zimmer, er saß immer bei ihr, wenn sie krank war, saß Stunde um Stunde dort und erzählte von fremden Häfen. Jetzt versank sie in regelmäßigen Abständen in tiefen Schlaf und träumte alles noch einmal, sah alles vor sich, wie sie es damals gesehen hatte, zerschnitt es aber in Fragmente, ab und zu sah sie Leo
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