Die Puppe an der Decke
sich gegenseitig um oder haben durch Nachrichtensendungen in Radio und Fernsehen mit der Welt zu tun. Aber vor allem herrscht hier der Alltag, der heilige normale Alltag, mit dem man nicht ringt, aus dem man nicht ausbricht, so lange die Umstände nicht dazu zwingen.
Als sie vor den drei Bildern des verwesenden Hundes stand, hatte Nina gesagt: »Wieso ist das eigentlich so schrecklich? Es ist doch ganz normal. Ein natürlicher Prozess. Das Fleisch verwest und wird zu Erde.«
Alltag. Donnerstag.
Rebekka dachte, dass Nina sich wirklich große Mühe gegeben habe, um in Leos Welt einzutreten. Sie hatte vorher eine Entscheidung getroffen, sie wollte nicht auf der Seite derer stehen, die von kranker Kunst reden, sie war aufgeklärt und offen und kannte außerdem schon andere Bilder von Leo, sie kannte seine Sprache.
Aber was, wenn der Hund in deinem eigenen Bett liegt, Nina? Was dann? Was, wenn das Fleisch, das durch dich Leben gegeben hat, auseinander fällt, was, wenn du lernen musst, mit dem Gestank des Verfalls zu leben?
Sie fuhr zwei Stunden lang umher. Es wurde hell. Wald, Straße, Felder, Schnee, schwarz, weiß und Grautöne, Stinas Welt, die durch Leons Kameralinsen gesehen, eine ganze Unendlichkeit, in der sie sich verfahren oder in der sie sich vielleicht zu Hause fühlen konnte, es war egal, er war nicht zur Arbeit gekommen. Sie war ganz sicher und hellwach, sie konzentrierte sich darauf, den Wagen auf der Straße zu halten, gefährliche Wegverhältnisse, verdammt gefährliche Wegverhältnisse.
Der graue klebrige Ton zwischen ihren Händen, die weißen Finger versanken darin, verschwanden, sie wollte nicht mehr, das hier war das letzte Mal. Sie hörte Gaute Rimfoss’ psalmodierende Stimme, seine Worte aber waren bedeutungslos, eher wie Tiergeräusche; die anderen lachten, er war eine Fundgrube an peinlichen Witzen. In der Kaffeepause ging sie; die anderen Rauchenden wie dunkle Schatten mit beweglichen orangen Punkten vor der grauen Betonmauer bei den Fahrrad-ständern.
Auf halbem Weg zur Stadt fuhr sie in eine Busnische und rief Nina an. Sie ließ es lange klingeln und wollte schon die Verbindung abbrechen, als sich doch jemand meldete.
»Ja?«
Sie klang ängstlich, es ging ihr nicht gut, sie wartete auf die anonyme Stille, aber Rebekka sagte:
»Ich bin’s, Rebekka. Du warst heute Abend nicht da. Ist etwas passiert?«
»Passiert! Herrgott! Ich habe mehrere Male versucht, dich anzurufen, aber ich habe nur den Anrufbeantworter erwischt.«
»Tut mir Leid. Ich vergesse dauernd, ihn abzuhören. Du hörst dich so hektisch an.«
»Rufst du aus der Schule an?«
»Nein. Ich bring das nicht mehr. Ich gebe auf. Was ist los, Nina? Kann ich irgendwas für dich tun?«
»Ja«, sagte Nina. »Du kannst herkommen und eine Tasse Tee mit mir trinken.«
»Natürlich. Hat der Wichser wieder zugeschlagen?«
»Ich kann am Telefon nicht darüber sprechen, Rebekka.«
»Alles klar. Sag mir deine Adresse, dann bin ich in ein paar Minuten bei dir.«
Das Auto war ein Schrotthaufen. Sie sah es schon, als sie am Haus vorüberfuhr, um etwas weiter oben am Hang zu parken. Der rote Toyota war in dem grellen Licht über der Haustür sehr gut zu sehen, das Dach war plattgeschlagen worden, alle Fenster waren zerbrochen. Rebekka ahnte hinter dem vorgezogenen Vorhang im Wohnzimmerfenster eine Bewegung. Als sie den Hof betrat, sah sie, dass auch das Küchenfenster etwas abbekommen hatte; ein fußballgroßes Loch war mit einer provisorischen Fensterscheibe überklebt worden.
Sie blieb neben dem Auto stehen. Alle vier Reifen waren platt und aufgeschlitzt. Die schwarzen Sitze waren mit Glasscherben übersät, die im fast weißen Licht wie Diamanten funkelten. Das war schön und erschreckend zugleich. Sie hörte, wie die Haustür geöffnet wurde, und als sie sich umdrehte, kam Nina ihr in dem leuchtenden Rechteck wie eine dunkle Papierpuppe vor.
»Herrgott«, sagte sie. »Was ist denn bloß passiert? Seid ihr mit dem Wagen ins Schleudern geraten?«
»Komm!«, sagte Nina. »Schnell!«
Dann brach sie in Tränen aus.
Rebekka betrachtete die Diele, während sie Nina an sich drückte und ihren Rücken und ihre Haare streichelte. Eine Truhe mit Bauernmalerei stand unter einem großen Spiegel. Sie sah einen Garderobenständer, wo ein Mantel achtlos über einen Haken geworfen worden war, dazu zwei Windjacken in Grün und Lila. Auf dem Boden vor der Wand eine Reihe Schuhe und Stiefel. Die Wände waren tiefrot gestrichen, und das Zimmer
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