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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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warf es in den schwarzen Plastiksack beim Holzschuppen. Es war kalt, sie fröstelte, und als sie wieder im Haus war, machte sie im Kamin ein Feuer. Noch immer in Pullover und Windjacke räumte sie den Sessel vor dem Fernseher frei und ließ sich dann hineinsinken, die Fernbedienung lag auf dem Boden.
    Südsee. Ein Hammerhai glitt über das Korallenriff, der lange Schwanz bewegte sich träge hin und her, das Sonnenlicht fiel durch das türkisfarbene Wasser. Zwei Menschen glitten ins Bild, ein Taucher und eine Taucherin, die langen blonden Haare der Frau wogten um ihren Kopf wie ein Heiligenschein. Rebekka dachte, warum tun wir das, was bringt die Menschen dazu, immer wieder die Gefahr zu suchen? Sie dachte an ein Interview mit einem bekannten Bergsteiger, er hatte den Gipfel des Mount Everest erreicht, die letzte Etappe allein, die ganze Zeit steckten rechts und links die Leichen anderer Bergsteiger in Eis und Schnee fest, er hatte die Frage so beantwortet, dass er dabei das Leben pulsieren fühlte, in den Städten sterbe er langsam, das Kneipenleben bedrohe seine Psyche, nicht das, was fast unmöglich war, was einer quälenden Auslöschung nahe kam. Die tiefgefrorenen Leichen der längst verstorbenen Abenteurer erschienen ihm als Eisskulpturen in farbenfrohen Gewändern, sie erinnerte sich noch an das Foto von einem, der mit seinem Rucksack auf dem Rücken dort saß, mit Schnee in Augenhöhlen und Bart, mit dem Schienbein, das aus dem Hosenstoff ragte, und so werde er in alle Ewigkeit dort sitzen, als Denkmal der eigenen Tollkühnheit.
    Draußen wurde es dunkel. Das Haus war gut isoliert, es wurde schnell warm, sie riss sich die Jacke vom Leib. In der Küche fand sie Brot und Aufschnitt; sie kochte sich eine Kanne Tee, als sie zurückkam, hatte der Hammerhai über dem Korallenriff sich in Formel 1 in Monaco verwandelt, das interessierte sie nun wirklich nicht, aber trotzdem sah sie sich die brüllenden Maschinen an, die durch eine Stadt jagten, die überhaupt nicht für Autos erbaut war, und dann fiel ihr Blick auf einen Pappkarton mit Videos.
    Der Karton war voll. Es waren sicher mehrere hundert Kassetten. Keine war mit Titeln beschriftet, alle aber waren nummeriert, sie zog 16, 74, 36 und 102 hervor.
    Sie legte 36 ein. Sport. Brustschwimmen der Damen. Der Kommentator sprach Englisch, es war eine Aufnahme von Eurosport, starke Rückenflächen durchbrachen den Wasserspiegel, senkten sich wieder, Bademützen und Schwimmbrillen, dann fiel ihr plötzlich auf, dass keine der Frauen mehr als nur ein Bein hatte. Die Paralympics vielleicht, sie war immer schon von der Willensstärke fasziniert gewesen, die diese Sporttreibenden ausstrahlten, von dem nahezu unglaublichen Anblick eines Abfahrtsläufers mit nur einem Ski, oder, wie hier, einer Brustschwimmerin, die nur die Arme zu Hilfe nehmen konnte und die Reste ihres Beines oder ihrer Beine hinter sich im Kielwasser schleppte. Sie sah die Stümpfe im türkisfarbenen Wasser und musste an den Hammerhai denken, das Scherenmaul, den blinden gefühllosen Instinkt. Brustschwimmen, Kraulen, Rücken und Delphin. Schwimmen ohne Beine, Schwimmen mit einem Arm, Behinderte im Chlorwasser, Rollstühle am Beckenrand, Medaillen, Interviews.
    16. Krieg. Afghanistan, vermutlich Afghanistan, klappernde Hubschrauber mit rotem Stern, Granateinschläge am Berghang, Feldlazarette, Großaufnahme eines Armes, der einem Jungen abgenommen wird, Schweißtropfen auf der Stirn; der schwarze Blick direkt in die Kamera, der Kommentator, der vom Mangel an schmerzstillenden Mitteln erzählt. Weiter, weiter, Afrika, Antipersonenminen, Frauen und Soldaten, Krankenbetten in Reih und Glied, Fliegen über Bein-und Armstümpfen, Menschen, die hinken und hüpfen, einem Mädchen fehlt der ganze Unterleib, sie zieht sich auf einem Brett mit Rädern weiter, sie lächelt in die Kamera, weiter, weiter, neue Kriege, neue Feldlazarette; die Berichte stammten von unterschiedlichen Nachrichtensendern, aber niemals folgte der Wetterbericht, niemals folgte ein politischer Kommentar, es gab keine Konferenzen oder Verhandlungen, es gab nur Bilder von zersprengtem Fleisch, zersprengtem Leben.
    102. Prothesenmacher, sie holte die Cognacflasche aus dem Eckschrank, einer Frau wurde ein künstlicher Fuß angepasst, ach, Niels Petter, Niels Petter, es war nicht dein Arm, den sie in der Autotür gebrochen haben, sie haben die Hand zerschlagen, die rechte Hand, zwei steife Finger, vielleicht drei, du gingst wie ein Kind, das sich die

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