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Die Puppe an der Decke

Die Puppe an der Decke

Titel: Die Puppe an der Decke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingvar Ambjörnsen
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dunkelblaues Kleid mit einem Spitzenkragen. Als sie es aus dem Schrank auf dem Dachboden hervorkramte, fand sie noch zwei Kleider und eine Bluse. Bei allen war Siri Ljoens Namen in den Kragen eingenäht. Sie hatte die Kleidungsstücke ausgelüftet. Und die Bluse gebügelt.
    Und während Rebekka jetzt jeden Abend vor Telefonbuch und Adressenliste saß, trat Siri Ljoens Bild ihr immer klarer vor Augen. Sie sah die alte Frau vor sich, die ihr wehes Bein hinter sich herschleppte, von der Küche ins Wohnzimmer, vom Wohnzimmer die Treppe in den ersten Stock und zum Schlafzimmer hoch. Sie lebte sich dermaßen in die andere ein, dass sie ab und zu in ihrem eigenen Bein einen schmerzhaften Stich verspürte, sie erhob sich vom Schreibtisch und probierte die Treppe aus, sie ließ sich von einem Zimmer ins andere treiben, noch immer mit den Gummihandschuhen an den Händen, sie diskutierte das ethische Dilemma mit sich selbst, oft laut, sie nahm Heftestapel auf überhaupt nicht vorhandenen Tischen und Stühlen wahr. Fast vierzig Jahre im Schuldienst, dachte sei. Dabei entwickelt man doch ein gewisses Gefühl für Wohl und Wehe eines Kindes, oder man stumpft ab. Ab-stumpfen. Wieder Leo, immer häufiger, sein seltsamer Hang zu allem, was nicht länger existiert, zu allem, das abgeschnitten ist, entfernt. Und sie dachte, dass Siri Ljoen sich entscheiden müsse. Dass die schmerzhafte Unruhe, die sie quälte, sie erst verlassen würde, wenn dem Unrecht ein Ende gesetzt wäre oder wenn sie beschlossen hätte, mit dem Unrecht zu leben, so, wie es war. Sie selbst hatte ihre Entscheidung vor langer Zeit getroffen, es war jetzt über fünf Jahre her, aber der konstruierte Zweifel, in dem sie sich jetzt suhlte, tat ihr gut; es war durchaus ein wenig erregend, zu denken, das tue ich nicht. Natürlich würde sie es tun, aber Rebekka ließ sie gern denken: das tue ich nicht, nie im Leben!
    Sie hatte die fünf wichtigsten Straßen Nybyens aufgeschrieben. Abgesehen vom Stjernesti, der sich vom Fjord bis zum Aussichtspunkt hinzog, enthielt diese Liste den Fiolvei, Skaret, den Fossvei und Konsul Gades vei. Sie ließ ihren gummierten Zeigefinger ruhig über die Kolonnen aus Namen, Adressen und Telefonnummern gleiten und registrierte sorgfältig jede zufällige Begegnung mit den Bewohnern dieser Straßen. Nach drei Tagen hatte sie mehr als achtzig Namen und Adressen. Inzwischen war sie fast ganz zu Siri Ljoen geworden, sie kaufte sich Lungenhaschee, was sie entsetzlich fand, aber sie kaufte sich Lungenhaschee und zwang sich zum Essen, und dabei tat ihr Bein entsetzlich weh.
    Sie telefonierte jeden Tag mit Nina. Manchmal meldete Niels Petter sich, wenn sie anrief. Und dann stand sie da und tauschte mit Niels Petter Holand alltägliche Bemerkungen aus. Es ging ihm immer besser, aber die Hand würde wohl nie mehr so wie früher. Sie erzählte von einer Entschädigung für Gewaltopfer, aber auf diesem Ohr war er taub; er war stolz, und sie freute sich darüber, dass er mitten in dem Entsetzlichen, was ihm und seiner Familie da widerfahren war, so stark und stolz war.
    Samstag, der Samstag, es war kurz vor Weihnachten. Sie fuhr mit dem Taxi hin, sie wollte Wein trinken, wie die anderen, sie hatte für alle drei Geschenke gekauft. Einen breiten Schal für Nina, einen schmalen Ledergürtel für Niels Petter – sie stellte sich vor, wie er irgendwo daran erhängt war –, und ein Schmusetier für Simen. Sie hatte den kleinen Knaben liebgewonnen, er lächelte, wenn er sie sah, er zeigte auf sie und nannte sie »Ekka«.
    Der grüne Miet-Volvo stand in der Garageneinfahrt, der Toyota war schon längst abgeschleppt worden. Niels Petter hatte es so gewollt. Langzeitmiete, während er nach einem guten Angebot auf dem Gebrauchtwagenmarkt Ausschau hielt, er mochte nichts übereilen, in keiner Hinsicht, sie bezahlte das Taxi und dachte, bei Stina habe er immerhin fast vier Stunden durchgehalten.
    Über Nacht waren zwanzig Zentimeter Schnee gefallen. Das Haus lag idyllisch unter den Tannen, mit weichem weißen Hut; aus dem Schornstein quoll Rauch, und das Licht der Flammen im Kamin und der Kerzen fiel sanft durch die Fensterscheiben. Niels Petter hatte neben die Tür eine Vogelfuttergarbe gehängt, die Tür zierte ein Kranz aus Tannenzapfen und witzigen Weihnachtsmännlein. Sie hatten das Taxi schon gehört, hatten sie durch das Fenster gesehen, jetzt machte Niels Petter die Tür auf, hereinspaziert, hier, gib mir deinen Mantel, Nina schaut gerade dem Puter auf die

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