Die Puppe an der Decke
Reih und Glied da. Auf dem grauen Betonboden konnte sie hier und dort braune Blutstropfen sehen, sie dachte Semikolon, Komma. Punkt. Stop. Schluss.
Sie gingen durch die ganze Halle zu einer grünen Stahltür auf der anderen Seite.
»Denk daran«, sagte er und legte die Hand auf die Klinke, »wenn da draußen die Schweinerippen auf dem Tisch stehen. Denn du fährst doch hin? Du lässt sie doch nicht mit sich selbst im Stich?«
Damit hatte sie gerechnet. Dass er die Nummer überprüft hatte.
»Ich habe mich überreden lassen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, warum, aber ich habe mich überreden lassen.«
»Das ist gut. Wir brauchen nicht für alles, was wir tun, einen Grund. Und wenn es einen gibt, dann kann der durchaus schlicht und einfach sein. Die wenigsten von uns wollen am Heiligen Abend allein da sitzen. Ich persönlich finde es ganz toll, aber so bin ich eben.« Er öffnete die Tür zur Schlachthalle.
Daran denken? An den Blutgeruch, der ihr entgegenschlug?
Es war eine große Halle. Die Wintersonne schien durch die Fensterreihe oben unter der Decke. Totes Fleisch, das sich langsam durch den Raum bewegte, Schweine und Rinder, die an den Hinterbeinen hingen, rot, gelb, bläulich, das Geräusch der scharfen Messer und des elektrischen Motors, der alles in Bewegung hielt. Leo grüßte nach allen Seiten, die Arbeiter grüßten grinsend zurück: da war der verrückte Künstler wieder, jetzt mit einer Schülerin oder Geliebten, vielleicht auch beides, ja, sicher beides. Der Boden war klebrig vom Blut. Ein Junge war mit einem Schrubber am Werk und schob halb geronnenes Blut und Reste in einen Abfluss. Es roch widerlich süß, aber Gott hatte ihr einen starken Magen gegeben. Leo fotografierte einen Mann, der mit einer langen gleitenden Bewegung einen Schweinebauch öffnete, er machte eine Serie von Bildern, der Kadaver dampfte. Sie musste an etwas denken, was sie über die russische Revolution gelesen hatte. Einzelne Soldaten hatten sich damit amüsiert, einen feinen Schnitt in den Bauch ihres Opfers zu setzen. Dann zogen sie einen Teil des Gedärms heraus und nagelten es an einen Baum, ehe sie ihr Opfer mit dem Bajonett um den Baum herum jagten. Ein Mensch hat sechs Meter Darm. Sie dachte, dass sechs Meter bisweilen ein sehr langer Weg sein können, der längste überhaupt.
Leo sagte, halb an sich gerichtet, noch immer mit dem Blick durch die Kameralinse: »Niels Petter Holand. Glaubst du, er weiß sein Glück zu schätzen? Dass er dich hat?«
Sie gab keine Antwort, und er fügte hinzu: »Du darfst mir nie erzählen, was er dir angetan hat. Für mich soll er unschuldig sein. Für mich ist er ein Stück weiße Leinwand. Oder ist sie es, die du dekonstruieren willst? Nina Granum? Oder beide?«
Kümmer dich nicht darum. Niemand hat mich. Aber vielleicht gibt es jemanden, der uns hat. Nein, das stimmt nicht. Du hast mich. Ich wusste nicht, dass ich das wollte. Ich war in meinem ganzen Leben noch nicht so überrascht. Sie sagte: »Nachdem du diesen Anruf gemacht hast, kannst du mich auf dem Markt verkaufen, wenn du willst.«
Er ließ die Kamera sinken. »Ich gehe doch davon aus, dass du begreifst, dass ich das nicht will? Komme ich dir so langweilig vor?«
Er lächelte. »Komm!«
Das Pferd trat in der engen Box von einem Bein aufs andere. Die großen blanken Augen musterten sie, dann irrte der Blick zur Decke, zur Wand, zum Betonboden.
»Er riecht Blut«, sagte Leo und streichelte behutsam die Flanke des Tieres.
»Glaubst du, er weiß, dass er sterben muss?«
»Er hat kein Ich, Rebekka. Er steht nur hier und ist das Pferd an sich. Das Tier steht immer mitten im Leben, so elend dieses Leben vielleicht sein mag. Er ist nervös. Er riecht das Blut. Das ist aber auch alles.«
Sie ließ einen Finger über das weiche Maul gleiten.
»Das ist ein prachtvolles Tier.«
Er nickte. »Aber was hilft das, wenn deine Rundenzeiten schlecht sind? Er sieht doch auch gut aus, dein Holand? Bei ihm ist noch viel Hengst vorhanden. Oder haben sie ihm die Eier bis ins Kleinhirn getreten?«
»Was du alles weißt!«
»Himmel, ich wohne doch hier unten. Und ich lese sogar ab und zu die Zeitung. Hab ich dich nicht auf die Idee gebracht, unter Pseudonym witzige Leserbriefe zu schreiben?«
»Nein«, sagte sie. »Das hast du nicht.«
»Umso besser.« Er schmunzelte. »Was seine Hand angeht …«
Er griff nach ihrer Hand und steckte ihren Fingerstumpf in den Mund.
Sie ließ ihn gewähren. Sie ließ ihn den Säugling spielen, bis
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