Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Tante Patience sieht zu, wie er sich erschöpft auf das Sofa sinken lässt. Sie kennt ihn so gut. Hierher kommt er, um seinen Kopf zu sortieren.
»Frühstück steht im Ofen«, sagt sie. Das Frühstück ist in diesem Hause an keine bestimmte Tageszeit gebunden. Es findet statt, wenn AJ nach Hause kommt, ganz gleich, in welcher Schicht er arbeitet: Zwei Uhr nachmittags oder zwei Uhr morgens, das Essen ist da und wartet auf ihn. Die Küche ist immer erfüllt von Düften, die einem erwachsenen Mann die Tränen in die Augen treiben können. »Ich habe gekocht und gekocht und irgendwann gedacht, ich verschwende hier meine Zeit.«
»Es tut mir leid. Ich hätte anrufen sollen.«
»Bist du sicher, dass du da nicht eine Freundin gefunden hast, AJ?« Sogar Tante Patience nennt ihn inzwischen AJ. »Ich und Stewart haben nichts dagegen. Wir kommen auch einen oder zwei Abende alleine zurecht.«
»Keine Freundin.«
»Sicher?«
Patience redet dauernd davon, dass er sich eine Freundin suchen soll. Sie ist so besessen davon, dass er sich fragt, wie sie wohl reagieren würde, wenn er es täte. Ob sie sich bedroht fühlen oder sich freuen würde.
»Ich weiß nicht, Patience, aber anscheinend glaubst du, ich arbeite in einer Partner-Agentur. Oder ich bin Location-Scout für einen Unterwäschefotografen oder so was.«
»Ich weiß, wo du arbeitest.«
»Na dann. Ist ja nicht gerade Girl Central.«
Patience schiebt die Lippen vor. »Wenn du lieber da draußen einen Baum anhimmeln möchtest.«
»Bitte.« Er verschränkt die Arme und schaut zur Decke. »Ich kann heute nicht auch noch einen Vortrag über Baumknutscher ertragen.«
Seit zwei Jahren gehört er zu einem Club, der Cider braut. Sie wetteifern darum, wer den besten Cider zustande bringt. Und zufällig ist eine der mit dem Cider verbundenen Traditionen das Wassailing, ein alter Brauch im West Country, bei dem man den Bäumen für ihren Jahresertrag dankt und sie bittet, auch im nächsten Jahr eine reiche Ernte zu schenken. Dann wird noch ein bisschen gesungen und geschrien, um die bösen Geister von den Bäumen zu vertreiben. Doch während er und seine Kumpels lediglich dachten, es sei ein netter Zeitvertreib, wenn sie sich als Cider-Brauer versuchten, sieht Patience die Sache ganz anders. Für sie ist er ein Hippie und einer von diesen Ökoterroristen, die gegen Umgehungsstraßen protestieren und ihr Leben in einem Abflussrohr verbringen würden, wenn sie damit einen einzigen Kammmolch retten könnten. Ziemlich dreist, dass sie ihm deswegen zusetzt. Sie hat’s gerade nötig. Wenn sie nicht im Wettbüro ist, treibt sie sich draußen auf den Feldern herum und sammelt Schlehen und Zwetschgen für ihre große, illegale Destille in der Garage, und dauernd ist sie auf der Suche nach irgendwelchen Früchten, damit sie non-stop Marmelade kochen kann. Zu den Cottages gehört Land – oh, Land gibt es reichlich –, aber kein Garten, nirgends. Draußen sieht man Reihen um Reihen von etikettierten Furchen wie auf den Aquarellen in Beatrix Potters Peter Rabbit -Büchern. Patience regt sich ständig auf, weil die Rehe oder die Muntjaks etwas gefressen haben oder weil sie befürchten muss, dass die Kaninchen sich dieses Jahr über das Gemüsebeet hermachen. Sie weiß genau, für welches Obst und Gemüse wann im Jahr Saison ist, und wenn er sie jetzt fragen wollte, würde sie eine Liste herunterrattern: Kürbis, Artischocke, Kohl. Aber er nennt sie niemals eine Baumknutscherin.
Er steht auf und geht in die Küche, um sich das Frühstück zu holen. Es ist ein Berg von Patiences Rührei mit Fenchel mit einem Haufen gebratene Champignons und drei dicken Scheiben Speck. Er gibt Tomatenketchup und ein großes Stück selbstgebackenes Brot dazu, und er setzt sich an den Tisch, um zu essen.
Er war es, der Zelda tot aufgefunden hat. Kurz nach Schichtbeginn. Sie lag auf dem Rücken, mit halb offenem Mund, als schnarche sie. Ihre Arme waren nach der Selbstverletzungsepisode, die zwölf Tage zurücklag, noch verbunden. AJ hat Patience nichts davon erzählt. Er möchte die Worte Ich habe jemanden tot aufgefunden nicht aussprechen, denn er weiß, danach kommt der Satz: Das ist das zweite Mal in drei Jahren . Er und Patience sprechen von Mum, sie haben ihr Bild überall, aber sie sprechen eigentlich nie darüber, wie es passiert ist.
Er schaut aus dem Fenster, vorbei an den monströsen Kraftwerkstürmen, und sieht das Tageslicht, das auf dem River Severn funkelt. Langsam, ganz langsam, gleitet die
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