Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
gewöhnlichen und einer forensischen Autopsie. Das ist jetzt drei Tage her, und man hat noch nichts gehört.
Vielleicht hat der Untersuchungsrichter recht. Zelda war jung, aber sie war stark übergewichtig – sie wog mehr als 120 kg –, und sie bewegte sich so gut wie gar nicht. Ständig ließ sie sich faul im Rollstuhl umherschieben, obwohl sie durchaus in der Lage war, selbst zu gehen. Ihre Kleidung platzte aus allen Nähten, und die Speckfalten an ihren Beinen mussten vorsorglich mit Vaseline eingerieben werden, damit sie nicht wund wurden. Ihre Garderobe bestand aus sieben roten T-Shirts, sieben grauen Jogginghosen und sieben Paar roten Socken. Sie trug nichts anderes, selbst als alles anfing, eng zu werden, und die einzelnen Teile waren so oft geflickt worden, dass sie fast nur noch aus Nähgarn statt aus Stoff bestanden. Alles, was über Essen und Fernsehen hinausging, war eine Verletzung ihrer Rechte. Sie erhob ständig schwere Vorwürfe gegen die Mitarbeiter, sodass diese am Ende nicht mehr wussten, wie oft sie beschuldigt worden waren, sie misshandelt/belästigt/vergewaltigt zu haben. Niemand diskutierte mit ihr, obwohl viele es gern getan hätten. Sie konnte die Stimmung auf einer ganzen Station kippen lassen. Alle reagierten auf sie, und alle bewegten sich wie auf dünnem Eis.
AJ kann und will nicht so tun, als hätte er Zelda gemocht. Aber als er sich dem Ende der kleinen Landstraße nähert, wo er wohnt, stellt er fest, dass ihm ihr Bild mit den blutenden Armen in jener Nacht nicht aus dem Kopf geht. Alles Rebellische war ihr vergangen. Und ihre Worte: »Jemand … etwas .«
Er zieht die Handbremse an und stellt den Motor ab. Lässt das Schweigen hereindringen. Viel zu sehen gibt es hier nicht – nur die ausgedehnten Überflutungsflächen des Severn, Berkeley Castle, den prachtvollen Anblick des abgeschalteten Kernkraftwerks. Das sind die Dinge, die man hier bei Sonnenuntergang bewundern kann. Keine Nachbarn, nur die Kühe. Dies ist Eden Hole Cottages, der Ort, wo er aufgewachsen ist, mitten im Nirgendwo. Großgezogen von seiner Mutter, Dolly Jessie LeGrande, und seiner Tante Patience Belle LeGrande – zwei kessen Halb-Jamaikanerinnen aus Bristol. Mum ist jetzt seit drei Jahren tot, aber Tante Patience geht es noch gut. Ja, immer besser.
»Wo zum Teufel bist du gewesen?«, schreit Patience aus dem Vorderzimmer, als er hereinkommt. » Daybreak ist schon vorbei, verdammt, und gleich fängt Cash in the Attic an, verdammt!«
Patience bedeutet »Geduld«, und der Name ist schlecht gewählt für seine Tante. Sie schreit alle Welt an, knallt bei der geringsten Provokation den Telefonhörer auf die Gabel und hält nichts vom Schlangestehen. Sie ist eine jähzornige, reizbare, exzentrische Naturgewalt mit der Schwerkraft eines Planeten: Alles gerät in ihren Orbit. Wenn sie schlecht gelaunt ist, fallen Dinge von Regalen, und fremde Babys fangen an zu weinen. Wenn sie glücklich ist, scheint die Sonne. Leute lächeln, Paare küssen sich, Streitigkeiten werden beendet. An manchen Tagen würde er Tante Patience mit Vergnügen erwürgen: ihr ein Kissen auf das Gesicht drücken, bis sie keine Luft mehr bekommt. Oder ihr Arsen in den Tee streuen und dann Eintrittskarten verkaufen, damit die Leute zuschauen können. Aber er weiß, dass das Leben ohne sie unmöglich gewesen wäre. Und ohne Stewart, seinen Mischlingshund. Patience und Stewart sind alles, was von seiner Familie noch übrig ist.
»Musste Überstunden machen«, ruft er zurück. Stewart kommt aus der Küche gerannt und umkreist ihn voller Wiedersehensfreude. AJ hängt sein Jackett an den Haken und bückt sich, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen. »Erinnerst du dich an diese Sache, die man Arbeit nennt? Gibt viel zu tun in der Klinik.« Mehr als viel, denkt er, mehr als viel. Das Wort »Wahnvorstellungen«, das Melanie Arrows benutzt hat, lässt ihm keine Ruhe. Es ist, als wüsste sie genau, was er letzte Nacht geträumt hat – als hätte sie herausgefunden, dass er für das Unheimliche in Beechway genauso empfänglich ist wie alle anderen auch.
»Na komm, Alter.« Müde geht er mit Stewart ins Wohnzimmer. Patience sitzt da und hat die Füße hochgelegt und die Arme stur verschränkt. Neben ihr steht eine Tasse Tee. Das Zimmer ist behaglich mit dem großen warmen Feuer im Kamin und dem Stapel Holz, das er gehackt und danebengelegt hat. Vertraute, seufzende Sofas und Sessel, bunt zusammengewürfelte Patchwork-Kissen, die seine Mum gemacht hat.
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