Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Mitarbeiter der Nachtschicht krankgemeldet. Wenn der Nachtdienst gewährleistet bleiben soll, wird er einspringen müssen. Er muss alles umwerfen, alle seine Pläne. Statt zwanzig Stunden hat er jetzt genau sechs, um sich darauf einzustellen. Als er ins Bett geht, bindet er sich eine Maske vor das Gesicht. Er muss an Zelda Lornton denken. Er träumt – nicht von der Klinik, sondern von einem Ort, an den seine Träume ihn schon öfter geführt haben. Es ist ein enger, geschlossener Raum oder eine Höhle mit glänzenden, behauenen Wänden. Es sieht aus, als seien kleine Gesichter in den Flächen um ihn herum versunken, die ihn nachdenklich beobachten. Aber es sind keine bedrohlichen Gesichter. Sie sehen absolut friedlich aus. Irgendwie weiß er, dass er hier in Sicherheit ist: Hier kann nur Gutes passieren. Er wird dünner und immer dünner, bis er das Gefühl hat, er wird gleich aufhören zu atmen und so stofflos werden, dass er durch ein Nadelloch passt. Dann wird er an einem Ort herauskommen, wo den ganzen Tag die Sonne scheint, wo die Früchte an den Bäumen süß und reif sind. Die Wege dort sind golden, und das Gras ist grün. Er ist sicher, dass seine Mum dort ist, irgendwo zwischen den welligen Hügeln.
Immer wacht AJ an der Stelle auf, an der er durch das Nadelloch gehen will. Dann liegt er schwer atmend da und hat das Gefühl, etwas Schönes ist ihm soeben vor der Nase weggerissen worden.
Mattes Licht fällt durch die dünnen Vorhänge. Er dreht sich um und wirft einen schlaftrunkenen Blick auf die Uhr. Viertel nach fünf. Müde schlägt er die Decke zurück. Stellt die Füße auf den Boden. Um sieben fängt sein Dienst an.
Er duscht, rasiert sich und trinkt eine Menge von Patiences Kaffee. Dann macht er sich auf den Weg. Unterwegs fährt er noch in Thornbury vorbei und kauft ein bisschen Seelenfutter für den Abend – Chips und Schokolade und Kindersüßigkeiten. Das machen alle Mitarbeiter – es ist Trostnahrung, die ihnen über die Ödnis einer Nacht in der Klinik hinweghilft. Das Geschäft führt »Forager’s Fayre«-Marmelade; eine Marke, die von hier aus der Gegend stammt, und Patience lässt nur diese und keine andere ins Haus. Tatsächlich lässt sie sich von Forager’s Fayre sogar inspirieren, statt ihr mit Verachtung zu begegnen. AJ legt ein paar Gläser in seinen Korb, um sie ihr morgen zu geben.
Es ist ein gewöhnlicher spätherbstlicher Abend in einer ländlichen Kleinstadt. Zwei kleine Express-Supermärkte, die Apotheke und ein Geschenkartikelladen haben noch geöffnet, außerdem die Spirituosenhandlung, der Inder und der Chinese. Aber als er, beladen mit Tüten, aus dem Laden kommt, bemerkt er etwas Außergewöhnliches. Auf der anderen Straßenseite stehen zwei oder drei Leute um jemanden herum, der auf dem Boden kniet.
Der barmherzige Samariter in AJ ist schon vor Ewigkeiten gestorben – er ist so sehr daran gewöhnt, in seinem Beruf den Dreck wegzumachen, dass sein Instinkt ihn treibt, in die andere Richtung zu gehen. Aber er hat Grundkenntnisse in Erster Hilfe, und deshalb kann er aus moralischen Gründen nicht so tun, als habe er nichts gesehen. Er überquert die Straße. Als er näher kommt, erkennt er, dass die Person am Boden eine Frau ist. Sie ist anscheinend nur an der Hand verletzt, denn sie hat sie fest mit einem weißen Taschentuch umschlungen. Sie trägt die weiße Spitzenbluse, die sie schon am Morgen angehabt hat, und fliederfarbene flache Spangenschuhe. Ihre Knöchel sind zierlich, die Waden kräftig. Er erkennt diese Waden sofort, denn Gott weiß, er hat sie oft genug betrachtet. Es ist Melanie Arrow. Die Ice Queen.
»Wirklich«, sagt sie eben zu den Zuschauern, »es ist wirklich alles in Ordnung.« Neben ihr liegt eine Einkaufstüte in einer klaren Pfütze, und ein paar Glasscherben sind auch da. »Im Ernst – mir ist nichts passiert.«
»Das sieht aber nicht so aus«, sagt jemand. »Sie bluten ja.«
Sie blutet tatsächlich. Das Taschentuch ist schon durchtränkt. Eine Frau wühlt in ihrer Handtasche und zieht eine Handvoll Papiertaschentücher heraus, die wie Blütenblätter zu Boden fallen. AJ stellt seine Einkäufe ab und läuft über die Straße zur Apotheke. Dort ist gerade nichts los, und die Verkäuferin sucht hastig alle Verbände heraus, die sie finden kann. Er bezahlt und trabt wieder hinaus.
Die Leute sind noch da, seine Einkaufstüten auch, aber Melanie Arrow ist verschwunden.
»Was ist passiert?«, ruft er. »Wo ist sie hin?«
Die Frau mit der
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