Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
sitzt auf der Bank vor der Damenumkleide und fühlt sich von Sekunde zu Sekunde beschissener. Er hat zwei Becher Kaffee aus dem Automaten getrunken und ein Mars gegessen, und jetzt kann er nur noch die Zettel am schwarzen Brett anstarren und mit der Schuhspitze an einem Kaugummi herumstochern, der entschlossen am Boden klebt. Inzwischen sind fünfundvierzig Minuten vergangen. Scharen von Frauen sind gekommen und gegangen und haben ihm verstohlene Blicke zugeworfen, bei denen er sich wie ein preisgekrönter Perverser vorgekommen ist – aber Melanie war nicht dabei. Entweder ist sie Landesmeisterin im Schmollen, oder sie ist im Umkleideraum aus dem Fenster geklettert.
Er bereut, was er gesagt hat und wie er es gesagt hat. Er hat ihr per SMS drei Entschuldigungen zukommen lassen, aber das Netz hier unten ist nicht so gut, und deshalb weiß er nicht, ob sie angekommen sind oder ob sie ihn ignoriert. Er will eben sein Telefon aus der Tasche wühlen und es noch einmal versuchen, als die Tür aufgeht und Melanie herauskommt.
Sie trägt ein schlichtes weißes Wollkleid und pelzgefütterte Wildlederstiefel. Ihr Haar ist noch ein bisschen feucht von der Dusche. Sie ist nicht geschminkt und sieht so hübsch aus, dass ihm fast das Herz stehen bleibt.
»Melanie …«, fängt er an und steht auf. Aber sie legt einen Finger an die Lippen und schüttelt den Kopf. Sie setzt ihre Tasche auf dem Boden ab, nimmt neben ihm auf der Bank Platz und betrachtet ihn eingehend.
»AJ.«
»Melanie, es tut mir leid.«
»Sag das nicht – ich sollte es sagen. Ich habe wirklich gelogen. Es ist nur … manchmal sieht man die Patienten an, und man weiß, sie verdienen die Chance, da rauszukommen und ein normales Leben zu führen. Manchmal haben sie ja nur einen einzigen Fehler gemacht, einen Fehler, für den sie mit der Einweisung in die Geschlossene schon genug bezahlt haben. Und wir legen ihnen weitere Hürden in den Weg. Ein Kästchen ist auf dem Entlassungsantrag mit der falschen Kugelschreiberfarbe angekreuzt worden, und schon verweigert die große bürokratische Maschinerie ihre Zustimmung. Und ohne eigenes Verschulden ist der Patient wieder so weit wie zuvor und fängt bei null an.«
AJ legt die Hände auf die Knie und trommelt mit den Fingern. Er teilt Melanies Ansicht nicht, dass jeder Patient, ganz gleich, wer er ist, eine Chance verdient. Viele Leute in der Klinik haben anderen das Recht auf Leben genommen, und in einer anderen Einrichtung würde man sie als Mörder bezeichnen. Einige von ihnen können nicht rehabilitiert werden. Vor allem nicht solche, die ein so grausames Verbrechen begangen haben wie Isaac Handel.
»AJ? Habe ich etwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein. Ich mache dir keinen Vorwurf. Schon gar nicht angesichts des Drucks, den das Kuratorium mit den Performance-Zielen auf dich ausübt.«
Er redet von den »therapieresistenten« Patienten, den Langzeitpatienten, den Bettenblockierern. Von denen, die nicht in die Gesellschaft hinausrecycelt werden können, weil ihre Verwandten nicht bereit sind, sie wieder in ihr Leben zu lassen. Oder von denen, die gar kein Verlangen danach haben, die Klinik zu verlassen und sich der Verantwortung in der realen Welt zu stellen, und die ihrer eigenen Entlassung lauter Steine in den Weg legen. Solche Patienten sitzen wie ein Riesenpfropf in den Rohrleitungen des Systems, und in ihrem Bemühen, die Verstopfung zu beseitigen, werden die Mitarbeiter von Beechway mit Direktiven von oben bombardiert, die sie immer wieder an die Notwendigkeit erinnern, die »durchschnittliche Verweildauer« zu reduzieren. Vor allem Melanie muss sich tagtäglich damit auseinandersetzen.
»Glaub mir, wir spüren diesen Druck alle, Melanie. Keine Schwester, kein Therapeut in der Klinik würde sich nicht versucht fühlen, bei einer kleinen Regelwidrigkeit ein Auge zuzudrücken, wenn das bedeutet, dass Patienten schneller durch das System geschleust werden. Und du – ja, du musst es härter zu spüren bekommen als jeder andere bei uns.«
Es ist kurz still, und dann senkt Melanie den Kopf. »O Gott«, sagt sie kläglich. »Ehrlich, ich habe Isaac nur angesehen und …« Sie schiebt die Finger ins Haar, als habe sie Kopfschmerzen. »Scheiße … okay, ich will einfach ehrlich sein. Ich dachte, er hat viele Jahre lang keine Schwierigkeiten gemacht, er ist niemals aus der Reihe getanzt – und er wäre ein guter Kandidat. Fuck .« Sie bohrt die Absätze in den Gitterrost unter der Bank. »So schießt man sich
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