Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
Unbehagen. Er steht zu dicht bei der Frau vor ihm, und sie wirft nervöse Blicke über die Schulter zu ihm zurück.
Nein – dieser Typ könnte niemals in ein Hotel spazieren und ein Zimmer mieten.
Er trägt mehrere Plastiktüten. Prallvoll. Als er die Dockingstation bezahlt, muss er sie auf den Boden stellen. Die Kassiererin wirft ein paarmal bange Blicke an ihm vorbei. Wahrscheinlich versucht sie, den Wachmann aufmerksam zu machen, falls hier etwas passieren sollte. Aber Handel hebt nur seine Tüten auf und verlässt den Markt. Die anderen Kunden schauen sich erleichtert an.
Caffery spult die Aufnahme zurück: Kunden werden zu schnell verwischten Streifen, Personal flitzt rein und raus, ein Mitarbeiter bleibt eine Millisekunde lang stehen, um mit einer Kassiererin zu sprechen, und ist sofort wieder verschwunden. Dann, zehn Minuten vor dem iPod-Dock-Kauf, erscheint Handel in der Kassenschlange. Diesmal hat er noch keine Tragetüten, sondern einen vollbeladenen Einkaufswagen.
Caffery hält die Aufnahme an. Die Kisten, Rollen und Dosen auf dem Wagen sind auf dem Bild nicht präzise zu erkennen. Er lässt das Video in normaler Geschwindigkeit weiterlaufen.
Handel wirkt hier genauso beunruhigend wie auf dem späteren Material. Obwohl er klein ist, macht irgendetwas in seinem Gesicht die Leute um ihn herum unruhig. Ein oder zwei andere Kunden stellen sich mit ihrem Wagen ans Ende der Schlange, aber nach ein paar Sekunden in Handels Nähe überlegen sie es sich anders und schieben ihre Einkaufswagen zu einer anderen Kasse. Eine Kundin fängt an, ihre Waren auf das Band zu legen, und lässt es dann doch lieber bleiben. Sie packt tatsächlich alles wieder in den Wagen und spaziert scheinbar gelassen davon, als habe sie noch etwas vergessen.
Caffery sieht aufmerksam zu, als die Kassiererin Handels Sachen über den Scanner schiebt. Noch einmal hält er das Video an. Er hat nichts zu schreiben; also schiebt er seinen Hemdsärmel hoch und notiert sich den Timecode des Standbilds auf den Arm. Er steht auf, geht zu Kieran Bolts Bürotür und klopft.
Ein Engel
Manchmal ist etwas so schön, dass man völlig durcheinanderkommt, wenn man versucht, es zu erklären oder einzufangen. Vielleicht liegt es an Mums Tod und daran, wie er sie in Erinnerung hat, vielleicht auch einfach daran, dass er jetzt erwachsen ist – jedenfalls hat AJ gelernt, das Schöne zu akzeptieren, wenn es ihm begegnet, es wertzuschätzen und fest daran zu glauben, dass es ihm später einmal wieder zuteilwerden wird. Dass so etwas ein bisschen nach New Age klingt, nach der Weisheit des Universums, ist ihm egal. Er hat einfach gelernt, die Welt so zu sehen.
Da gibt es nur ein Problem. Denn während es leicht ist, aus diesem Fenster hinaus auf unzählige Morgen grünes Land zu schauen, bis hin zum endlosen, wolkigen Horizont, und dabei die Schönheit der Landschaft in sich aufzunehmen, kann er, wie er feststellen muss, nur schwer glauben, dass Melanie Arrow tatsächlich hier an diesem alten Küchentisch sitzt und Patiences Einundzwanzig-Uhr-Frühstück isst. Er will besitzen und behalten, was er sieht. Wünscht sich, er hätte die Kurve schon früher gekriegt, und zugleich ist er doch froh, dass er gewartet hat, bis der richtige Moment da war. Es ist, als säße Mum in der Ecke und schaute Melanie zufrieden lächelnd an – froh und stolz, weil er endlich das Richtige getan hat. Denn es sieht ganz so aus, als sei ein Engel in ihrem Cottage gelandet. Jemand, der ihn verwandeln und zu einem besseren Menschen machen wird.
»Noch mehr?« Patience steht da, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen die Bratpfanne, und schaut mit hoch erhobener Nase auf Melanie herunter, die soeben großzügigerweise einen Berg Würstchen, Eier, Kokos-»Bammy«-Kuchen und gebratenen Kürbis verspeist hat. Anscheinend wuchert das Kürbisbeet wie verrückt, und Patience ist entschlossen, die ganze Ernte an Melanie zu verfüttern. Gar nicht zu reden von dem Liebstöckel-Brandy, den sie immer in ihr Glas gluckern lässt. »Wollen Sie nicht noch mehr essen?«
AJ beißt in seinen Kaffeebecher. Er ist entschlossen, sich nicht einzumischen. Wenn Mum noch lebte, würde sie sagen, Patience sticht heute Abend wirklich der Hafer. Melanie ist für Patience die größte Herausforderung der letzten Jahre. Wahrscheinlich seit ihrer 50:1-Wette in Kempton Park. Ihr entgeht nicht das Geringste, und sie unterzieht die erste Freundin, die ihr Neffe in den letzten Jahren mit nach Hause
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