Die Puppe: Psychothriller (German Edition)

Körperteile nicht aufspüren können. Einige Ermittler mutmaßen, er habe sie aus dem Fenster geworfen und sie seien von Wildtieren verschleppt und gefressen worden. Andere beharren darauf, es gebe nur eine praktikable Möglichkeit, wie Isaac die Teile vom Tatort entfernt haben könne: Er müsse sie verzehrt haben. In den Akten ist jedoch nirgends davon die Rede, dass Isaac geröntgt oder untersucht worden war. Zumindest die Zähne hätte man beim Röntgen in seinem Magen gefunden, denkt Caffery. Aber bei einem Tatort, der sich als Traum jedes Spurensicherers erweist – und bei einer auf Unzurechnungsfähigkeit gründenden Verteidigung –, wird keine Polizeibehörde in diesem Land ihr Sparschweinchen zerschlagen, um die Ermittlungen noch weiter zu treiben. Das passiert nur, wenn eine Misty Kitson verschwindet.
    Draht und Krokodilklemmen .
    Als man Graham und Louise Handel fand, lagen sie auf dem Rücken, und zwar mit weit offenem Mund, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass ihre Muskeln sich verkrampften, als ihr Sohn ihnen die Zähne herausriss. Die Löcher, die zurückgeblieben sind, erkennt man schwarz und blutig auf den Fotos. In seinem Bericht vermerkt der Rechtsmediziner immer wieder, er sei außerstande, präzise Aussagen zu machen, da gewisse »Umstände« zu einer Verzögerung seiner Untersuchung geführt hätten. Ohne unmittelbaren Zugang zu den Leichen müssten viele seiner Schlussfolgerungen auf Vermutungen basieren. So könne er nur schätzen, dass Mrs Handel mehr als dreißig Minuten gebraucht habe, um zu sterben, und Mr Handel etwas weniger, vielleicht achtzehn bis zwanzig Minuten. Er könne auch nicht sagen, ob die offenen Münder auf die Totenstarre zurückzuführen seien oder ob Isaac sie im Tode so positioniert habe.
    Die »Umstände«, die verhinderten, dass das Team an die Leichen herankam, sind von mehreren Beteiligten zu Protokoll gegeben worden: von den Kriminaltechnikern, von dem zuerst am Tatort erschienenen Officer und von dem damaligen Ermittlungsleiter. Und sie bereiten Caffery noch größeres Unbehagen.
    Genau in der Mitte zwischen der Tür und den Leichen hatte Handel einen Draht gespannt. Der Officer war umsichtig genug, ihn zu entdecken, und alarmierte sofort die militärische Kampfmittelbeseitigung. Die Experten brauchten neunzig Minuten, um von Salisbury heraufzukommen und den Tatort zu sichern. Sie stellten fest, dass jemand, der ahnungslos hereingekommen wäre, eine chemische Explosion ausgelöst hätte, die den ganzen Raum in Brand gesetzt hätte. Ein verminter Tatort. Sehr clever.
    Als Caffery zu Ende gelesen hat, legt er die letzte Seite des Berichts der Spurensicherung umgedreht in die Kiste, schließt den Deckel und denkt nach. Irgendetwas stimmt hier nicht, ein Widerspruch, eine Ungereimtheit, etwas, worauf er nicht den Finger legen kann … Er sitzt da, presst die Daumen an die Schläfen und versucht, sich zu konzentrieren. Aber er kann es nicht festnageln.
    Er zieht das Foto von Isaac Handel heran. Viele Leute behaupten, sie könnten das Böse in den Augen eines Menschen sehen, und manchmal fragt Caffery sich, ob ihm vielleicht eine wichtige Qualifikation für seinen Job fehlt, denn trotz seiner jahrelangen Berufserfahrung und bei all den Mördern und Vergewaltigern und Kinderschändern, denen er begegnet ist, hat er nicht ein einziges Mal in die Augen eines Verbrechers geschaut und das Böse darin gesehen. In Isaac Handels Augen sieht er auch nichts. Überhaupt nichts. Als wäre hinter der Iris eine undurchdringliche Barriere herabgelassen.
    Noch einmal überlegt er, was in diesem Bericht fehlt. Als ihm keine Antwort einfällt, lehnt er sich zurück, faltet die Hände über dem Bauch und stellt seine Gedanken in einer Reihe auf.
    Geh davon aus, sagt er sich – denn alle Anzeichen sind da –, dass Handel immer noch krank ist und dass er eine Gefahr für sich selbst und für die Öffentlichkeit darstellt.
    Geh davon aus, dass das, was in der Hochsicherheitsklinik Beechway passiert ist, zweitrangig ist.
    Geh davon aus, dass es erstrangig darauf ankommt, Isaac Handel zu finden.
    Geh davon aus, dass der Superintendent den Etat für diese Sache erst auf Mordfallniveau anheben wird, wenn Zelda von Neuem obduziert worden ist, und dass er sich ganz sicher nicht für ein Gespenst in einer psychiatrischen Klinik interessieren wird.
    Alles das bedeutet, Caffery muss die harte Tour fahren: Er muss Handel allein finden.
    Und wie bei fast allem anderen im Leben kann er