Die Puppe: Psychothriller (German Edition)
es ihn ärgert, dass er letzte Nacht aus dem Schlafzimmer geworfen wurde, lässt er es sich nicht anmerken, während er sein Frühstück verschlingt. AJ sieht ihm nachdenklich ein paar Augenblicke lang zu, dann wäscht er seinen Kaffeebecher aus und geht die Treppe hinauf.
Melanie hat geduscht. Sie sitzt angezogen in dem Sessel neben seinem Schlafzimmerfenster und wühlt in ihrer Handtasche. Sie trägt eine weiße Bluse mit einem Matrosenkragen und einer kleinen schwarzen Schleife und dazu lange silberne Ohrringe. Als er hereinkommt, nimmt sie hastig die Hände aus der Handtasche. Aber er hat trotzdem gesehen, was sie getan hat.
Er schaut die Tasche an. »Hast du dein Armband immer noch nicht gefunden?«
»Oh.« Sie zuckt die Achseln. »Nein – nein, ich … macht nichts. Das ist kein Weltuntergang.«
»Ist aber nicht schön, etwas zu verlieren, das einem kostbar ist.«
Melanie klappert mit den Lidern und lächelt ihn an, aber er sieht, dass es sie Mühe kostet. Sie wehrt sich dagegen, dass etwas die Fassade durchbricht.
»Melanie?«
»Ja?«, sagt sie munter. Sie springt auf, dreht ihm den Rücken zu und fängt an, Sachen in ihre Tasche zu schaufeln. »Ich muss los, AJ … wir müssen los. Die Klinik wartet, die Patienten wollen versorgt sein. Also dann mal Beeilung!« Sie hebt die Hand und schnippt mit den Fingern und sieht ihn immer noch nicht an. » Vamos, vamos, vamos, babbbbeeeee! «
Das Bad
AJs Gedanken kommen nicht zur Ruhe – sie springen hin und her, in lauter Richtungen, in die sie nicht springen sollen. Wenn er sich nicht gerade fragt, ob Melanie noch etwas für Jonathan Keay empfindet, fragt er sich, warum DI Caffery noch nicht angerufen hat. Nicht, dass er es erwartet – aber er hätte gern irgendeine Art von Kontakt. Ein Update. Ihr Gespräch geht ihm nicht aus dem Sinn: Wissen Sie wirklich nicht, was auf der Upton Farm passiert ist …?
Kaum sind er und Melanie in der Klinik angekommen, entschuldigt er sich und geht geradewegs zu Handels Zimmer. Es ist noch kein neuer Patient dort eingezogen. Er schließt die Tür auf, geht hinein und sperrt wieder ab, bevor jemand ihn sieht. Die Zimmer auf der Entlassungsvorbereitungsstation sind für risikoarme Patienten eingerichtet, die so weit sind, dass sie entweder ins gesellschaftliche Leben zurückkehren oder in Kliniken der mittleren Sicherheitsstufe verlegt werden können. Die Patienten haben Möbel und dürfen Poster an die Wände hängen. Nach der Risikoevaluation bekommen manche sogar ein eigenes Badezimmer. Handel hatte eine Wanne und Kleiderbügel und eine Leselampe über dem Bett.
Man hat bereits erste Schritte unternommen, um das Zimmer für den nächsten Patienten bereitzumachen. Putzgeräte sind heraufgebracht und in die Ecke gestellt worden. Zwei Plastiksäcke mit Müll stehen unter dem Fenster. AJ geht in die Hocke und durchwühlt sie. Nichts allzu Ungewöhnliches: die übliche Mischung aus Süßigkeitenpapier, einem faulen Apfel, Illustrierten, alter Unterwäsche.
Die Patienten sind sehr geschickt darin, Dinge zu verstecken – und es sind selten die Dinge, die man vielleicht erwartet, etwa Zigaretten oder Drogen. Sehr oft sind es Lebensmittel. AJ weiß nicht mehr, wie viele Schatztruhen mit schimmeliger Pizza und Torte er schon gefunden hat, in Kissenbezügen, ganz hinten in Kleiderschränken, sogar in säuberlich zugeschnürten Sportschuhen. Manchmal sind es aber auch schmutzige Kleidungsstücke, denen sie irgendeine Bedeutung zuschreiben. Einmal hat er einen altmodischen Keramikfingerhut gefunden, der bis an den Rand mit einer dicken, klebrigen Substanz gefüllt war. Er hat mit einem Kugelschreiber hineingestochen und ein paarmal darin herumgerührt, bis er begriff, dass es sich um das gesammelte Ohrenschmalz eines Patienten handelte.
Es ist ein bezauberndes Leben hier in Beechway.
Als er die Müllsäcke durchwühlt und nichts Interessantes darin gefunden hat, setzt AJ sich auf die Matratze und schaut sich um. Die Wände sind kahl bis auf ein paar Klebstoffflecke, wo Isaacs Poster gehangen haben. Die Vorhänge sind an einer Stelle zerrissen. Das muss er notieren und eine Reparaturanforderung an die Hausmeisterei schicken. Die Tür zu Isaacs Bad steht offen, und der Wasserhahn über der Wanne zieht mit seinem steten Tropfen AJs Aufmerksamkeit auf sich.
Die Bäder hier sind so eingerichtet, dass sie unzerstörbar sind, und es gibt keine »Ligaturpunkte« – das heißt nichts, woran ein Patient sich aufhängen könnte. Alle
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