Die Puppenspieler
Kletterkünste hatten ihn so beeindruckt, daß er die Zeit fast völlig übersah und seinen versteckten Platz nicht verlassen mochte. Als er dann nach Stunden schwer beladen zurückkehrte, sah er einen Reiter auf die Hütte zukommen. Aus einem unguten Gefühl heraus ließ er seine Äste fallen und rannte los. Der Reiter bemerkte ihn bald, zügelte sein Pferd und wartete. Es konnte ein Reisender sein, sicher, aber … Doch dann galoppierte der Mann mit gezücktem Messer auf ihn los. Richard verließ die Hütte immer bewaffnet und hatte auch Saviya ein Messer hinterlassen. Aber wie sollte er sich verhalten, wenn der Räuber noch Komplizen im Hinterhalt hatte?
Richard riß sein Messer aus der Scheide und wich dem anstürmenden Pferd aus. Da die Gefahr bestand, daß sein Tier auf dem unsicheren Boden stürzte, schwang sich der Räuber schließlich aus dem Sattel. Richard sah in diesem Moment alles sehr klar. Die Hütte, das Pferd, das dunkle, verschwitzte Gesicht des Räubers und das Messer, das Messer, auf dem die Sonne glänzte. Der andere tänzelte provozierend um ihn herum. Richard versuchte fieberhaft, sich an Leo Mühlichs Lehren zu erinnern. Nicht die Beherrschung verlieren, auf keinen Fall die Beherrschung verlieren …
In einem Überraschungsangriff warf sich der Räuber mit dem ganzen Gewicht seines Körpers auf ihn. Die plötzliche Last drückte ihn auf den Boden, und einen Augenblick lang ritzte die Messerspitze seine Haut. Dann zog Richard seinen Arm hoch und stieß zu, spürte, wie das Messer an der Schulter seines Gegners abglitt. Doch der Stoß verschaffte ihm den Moment, den er brauchte, um sich aus der tödlichen Umklammerung zu befreien. Der Räuber fuhr zurück, Richard stand wieder, doch nicht für lange, denn der nächste Stoß des Mannes traf seinen Arm. Von seinem Ellenbogen schien eine Feuerspur hinabzulaufen. Er drängte den Schmerz zurück und versuchte, den Stoß zu erwidern. Doch sein Gegner hatte sich inzwischen aus seiner unmittelbaren Reichweite zurückgezogen.
Eine Zeitlang umkreisten sie sich schweigend. Dann stolperte der Räuber plötzlich so ungeschickt, daß er direkt auf Richards Messer zulief. Richard stürzte sich triumphierend auf ihn. Mit einem Ruck schnellte der Mann zurück und versetzte ihm einen Stoß, und Richard merkte zu spät, daß er sich zwischen die Hüttenwand und das gegnerische Messer hatte drängen lassen. Er spürte das harte Holz im Rücken, sah die Mordlust in den Augen des Räubers, sah, wie die Klinge sich mit unheimlicher Langsamkeit näherte. Selbst sein Atemholen schien langsam zu sein, schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann veränderte sich der Blick des Mannes – er wurde verwundert, endlos verwundert.
Vor Richards Augen fiel der Räuber, der ihm eben noch einen tödlichen Stoß versetzen wollte, auf die Knie, brach zusammen. Aus seinem Rücken ragte ein Messergriff. Als Richard aufschaute, sah er Saviya vor sich stehen, klein und zierlich, in eines seiner Hemden gehüllt. Sie erwiderte seinen Blick.
»Selbst den kleinen Kindern«, sagte sie klar und deutlich, »wird bei uns beigebracht, wo das Herz ist.«
»Jetzt sage nicht, daß jeder Zigeuner besser mit dem Messer hätte umgehen können«, erwiderte Richard, »du hättest nämlich recht.«
Sein Blick kehrte zu dem toten Körper zwischen ihnen zurück. Er spürte einen metallischen Geschmack im Mund und starrte auf seine Hände – blutige Hände.
»Riccardo«, sagte Saviya verwundert, »hast du noch nie gesehen, wie ein Mensch stirbt?«
Er riß sich von dem Leichnam los und merkte, daß sie zitterte, daß sie eigentlich überhaupt nicht auf den Beinen sein dürfte, und legte hastig einen Arm um sie, um sie zu stützen.
»Einmal«, entgegnete er und versuchte, sich nur darauf zu konzentrieren, in die Hütte zurückzukehren. »Ein einziges Mal, aber das war … etwas anderes.«
Erst später bemerkte er die Wunde an seinem linken Arm und brach in haltloses Gelächter aus. Die Anspannung löste sich.
»Oh, Saviya, wir geben ein feines Paar ab, wir könnten zusammen als Krüppel betteln gehen.«
Er reinigte seinen Arm. Ehe er ihn jedoch verbinden konnte, sagte Saviya: »Warte, Riccardo.« Ihr kleines Gesicht war sehr ernst, als sie fortfuhr: »Du hast mir das Leben gerettet, und ich habe dir das Leben gerettet. Nach den Gesetzen meines Stammes sind wir damit verwandt. Wir müssen es nur noch besiegeln.«
»Und wie«, fragte Richard schwach und setzte sich zu ihr, »macht man das bei euch
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