Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Puppenspieler

Die Puppenspieler

Titel: Die Puppenspieler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
Weg nach Bozen waren. Am frühen Nachmittag hielt er erschöpft inne, nahm sich etwas Dörrfleisch und verzehrte es langsam und schweigend.
    Erst nach einiger Zeit bemerkte er, daß sie die Augen aufgeschlagen hatte und ihn beobachtete. »Wer seid Ihr?« fragte sie in einer etwas seltsamen, aber doch verständlichen Abwandlung dessen, was er als italienische Volkssprache gelernt hatte. Richard schalt sich einen Narren. Er hatte bisher deutsch auf sie eingeredet.
    »Mein Name«, sagte er, bemüht, langsam und deutlich zu sprechen, »ist Riccardo …« Er entschied, daß sein Familienname zu fremd für ihre Ohren klingen würde. »Und du, wer bist du?«
    Das Kind versuchte, sich aufzurichten, sank jedoch mit zusammengebissenen Zähnen wieder zurück. » Sono Saviya «, erwiderte sie. »Wo bin ich hier, und wo ist mein Großvater?«
    Ihre Stimme war zwar schwach, doch sie sprach klar und deutlich.
    »Du bist in einer Berghütte«, sagte er behutsam. »Ich gehöre zu einem Kaufmannszug, der dich … und die anderen gefunden hat …«
    »Ich weiß«, erwiderte sie fast mit einer Spur Ungeduld, »ich kann mich erinnern, wie Ihr mich aufgehoben habt. Aber wo ist mein Großvater?«
    Richard sah keine Möglichkeit, es ihr schonender beizubringen. »Er ist tot, Saviya.«
    Das Mädchen schloß die Augen wieder und drehte sich langsam auf die Seite. Richard sagte nichts. Er wußte aus Erfahrung, wie sinnlos das war.
    Doch als er nach einer Zeitspanne, die ihm eine halbe Ewigkeit erschien, wieder mit ihr sprechen wollte, hatte sie erneut das Bewußtsein verloren. Trotz ihrer Wunden warf sie sich schmerzgepeinigt hin und her, und schließlich blieb ihm keine andere Wahl, als sie festzuhalten, um zu verhindern, daß ihre Verletzungen wieder aufbrachen. Sie bäumte sich auf, schlug nach ihm und schrie in einer Sprache, die er nicht verstand. Dann wurde sie wieder vollkommen ruhig. Er erneuerte ihre Verbände. Dann erst merkte er, daß er hungrig war. Er wußte, daß sie noch kein Fleisch zu sich nehmen konnte und versuchte nach besten Kräften, aus den Vorräten eine Art Suppe zu fabrizieren. Dabei fiel ihm auf, daß er spätestens am nächsten Morgen den Holzvorrat erneuern mußte.
    Das Mädchen sah ihn wieder an, und ihre Augen verrieten, daß sie bei Bewußtsein war. Diese merkwürdigen grünen Augen hatten ihre fieberglänzende Intensität verloren, flackerten nicht mehr ziellos hin und her, sondern blieben auf ihn gerichtet. Völlig unvermittelt sagte sie: »Es ist immer so.«
    »Was?« fragte Richard verwirrt. Ihre Stimme klang rauh.
    »Räuber, Bauern, Stadtbewohner … Sie sehen sich erst unsere Kunststücke an und lassen sich wahrsagen, und dann werfen sie mit Steinen nach uns oder bringen uns gleich um. Weil wir Zigeuner sind.« Sie schwieg, und als er versuchte, ihr die Suppe einzuflößen, wandte sie den Kopf ab. »Ich will sterben.«
    »O nein«, sagte Richard energisch, »o nein, das wirst du nicht. Du wirst leben.«
    Er erinnerte sich an den Abend vor drei Jahren, als Jakob ihn aus einer ähnlichen Stimmung herausgeholt hatte, und versuchte es mit der gleichen Methode.
    »Nur Feiglinge wollen sterben. Du glaubst vielleicht, es ist leichter so. Nun, das ist es. Aber was würden deine Leute von dir halten, wenn du dich benimmst, als wärest du die Schwachheit und Feigheit in Person?«
    Ihr Kopf bewegte sich, und plötzlich biß sie ihn in die Hand, die den hölzernen Krug mit der Suppe hielt. Richard unterdrückte mit Mühe einen Aufschrei. Ihre Zähne waren scharf, soviel stand fest.
    »Danke«, sagte er trocken. »Du bist ein wirklich gut erzogenes Kind.«
    »Ich hasse dich«, sagte sie durch zusammengepreßte Zähne hindurch, »geh weg! Ich bin kein Feigling!«
    Richard rührte sich nicht.
    »Und ich glaube trotzdem, daß du nur Angst hast. Du bist nicht die einzige. Sogar der Stammvater Roms, Äneas, der trojanische Held, wurde gewarnt, als er in die Welt des Todes hinabsteigen wollte.« Er zitierte langsam die vertrauten Verse des Vergil und übersetzte sie gleichzeitig:
    »Du, der du entsprungen bist vom Blut der Götter, Trojaner, Sohn des Anchises, leicht ist der Abstieg zum Avernus: Nacht und Tag ist das Tor zur schwarzen Welt geöffnet; doch deine Schritte zurückzuverfolgen und aufzusteigen zurück zum Licht, das ist Qual, das ist Mühe …«
    »Ja«, sagte sie und wandte den Kopf ab. »Das ist es.« Doch in ihren Augen glomm ein Funke von Neugier; Richard hatte sein Ziel erreicht. »Wer war dieser Äneas?«

Weitere Kostenlose Bücher